Der Hirt auf der Geissalp

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

An einem Spätherbst kehrte ein fremdes, untersetztes Männlein zum Hirten auf der Geissalp ein. Inständig bat es um eine Kuh zum Durchwintern. Einige Nachbarn, die gerade zu einem kurzen Besuch zugegen waren, redeten dem Hirten lebhaft zu, sich keinem Verlust auszusetzen. «Du kennst ja diesen Zwerg nicht, wer weiss, ob dem Unbekannten zu trauen ist. Gib ihm kein Tier!»

Der Bauer besann sich eine Weile. Hoch und teuer versicherte das Männchen dem Hirten, das überwinterte Stück Vieh wohlbehalten wieder zurückzuführen. Nun brachte es der Hirt nicht übers Herz, dem Bittenden eine abschlägige Antwort zu geben. Ungeachtet der Ermahnung seiner Nachbarn gab er dem Zwerg eine Kuh, und sicherlich nicht die beste der Milchkühe. Der Kleine gab sich zufrieden. Er schloss den Handel, nahm die geliehene Kuh an der Halfter und zog mit ihr bergauf. Lange blickten die Sennen dem Aufzug nach. Plötzlich nahte sich der merkwürdige Zwerg einer Fluh gegen die Kaiseregg zu und verschwand mit seinem Hornvieh hinter einer Felsspalte. «Deine Kuh hast du jetzt zum letzten Male gesehen», behaupteten die klugen Älpler. Dem Geissalphirt tat es im Herzen weh, doch liess er es nicht anmerken. Äusserlich gelassen fügte er sich ins Unvermeidliche.

Darüber vergingen die endlos langen Winterwochen. Als der Frühling mit Blumenpracht und Sonnenglanz Einzug hielt, dachte der Hirte sehnsüchtig an seine ausgeliehene Winterkuh. Ob wohl das Männlein Wort hielt? Er brauchte nicht zu lange zu raten. An einem sonnigen Nachmittag trabte das fremde Männchen wieder gegen den Stafel der Geissalp zu. In der Rechten führte er eine schwere, fette Kuh, daneben hüpfte ein munteres Kälblein daher. Dem verblüfften Hirten verschlug es vor Staunen und Freude die Sprache. Das Zwerglein gab ihm die durchwinterte Kuh zurück und fügte noch einen gefüllten Beutel Geld als Lohn hinzu. Bevor der erfreute Hirt sich noch von seiner Überraschung erholt hatte, schritt das Männlein mit einem freundlichen Gruss wieder davon.

 

Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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