Eng presst sich die triftenreiche Riggisalp an die grausteinige Felsenbrust der Kaiseregg. Weit im Land herum besitzt die Alp einen guten Klang. Denn manch begehrliches Schleckmaul hat schon die süsse, dicke Nidel der Riggisalp verkostet; jeder Besteiger der zweitausend Meter hohen Bergriesen kehrt hier in der tiefdachigen Sennhütte zur kurzen Rast ein und schlürft gern eine Tasse Alpenmilch. Diesen Genuss erleichtert dem bequemen Touristen heute eine Sesselbahn, die vom Talboden auf die Alp führt.
Die Riggisalp ist geziert mit dem runengewirkten Mantel der Volkssage. Hier oben im Schutze des Kaisereggschlosses war einst das Zauberreich der Bergmännchen. Gar manchem Hirten auf den umliegenden Weiden hatten sie ehedem treffliche Dienste erwiesen; aber Undank und Arglist der Menschen vertrieben die hilfreichen Zwerglein in die unterirdischen Höhlenkammern der Bergwelt. Davon kündet noch bis zur Gegenwart das «Zwergenloch», eine tiefgründige Felsspalte auf der Riggisalp.
Die Älpler haben gewaltigen Respekt vor dem Zwergenloch. Seine Tiefe hat noch kein Mensch gemessen. Bis zum Schwarzsee hinunter soll der unterirdische Graben münden. Kinder, die aus Mutwillen Steine in die gähnende Spalte warfen, hörten deren Gepolter minutenlang, bis es weit im Bergesleib drinnen verstummte.
Einst war ein Hirt von der Riggisalp mit dem Heuet beschäftigt. Eine Bürde nach der andern trug er auf seinen beiden Schultern in den Heuschober. Unterdessen spielte sein 4-jähriger Hansli unterm wohligen Schatten einer weitästigen Wettertanne. Über Berg und Tal spannte sich das Riesendach des enzianblauen Himmelszeltes, feurige Sonnenglut brütete über den grauen Schindeldächern, dass sie weit in die Ferne leuchteten. Da war der lindernde Schatten der bemoosten Tannen ein gern gesuchter Kühlwinkel.
«Hansli! Hansli! Komm!» rief der Hirt nach getaner Arbeit. Keine Antwort kam zurück. Der Bub schläft wohl, dachte der besorgte Vater. Seine Augen suchten den Abhang ab; das schattige Plätzchen, worauf das Kind geruht hatte, war leer. Der Senn schritt dem Walde zu, die Halde hinunter. «Hansli, wo bleibst du denn?» Aber kein glockenhelles Kinderlachen, wie er es am geweckten Bübchen gewohnt war, liess sich vernehmen. «Der Donnersbub hat sich verlaufen», brummte der Hirt. Scharf spähten seine geübten Augen über Weide und Weg hin, er durchquerte das dunkle Tannengehölz, er schrie sich die Kehle heiser nach dem vermissten Kind. Vergebliche Mühe! Nur das Echo vom Wald und den nahen Flühen her gab höhnische Antwort zurück. Jäher Schreck fuhr dem Mann eiskalt ans Herz. «Dem Buben ist etwas zugestossen! Ist er über eine Felswand gestürzt? Hat er sich irgendwo verlaufen?» Sein einziger Bub, die Sonne seines harten Sennenlebens! Schon dämmerte der Abend herein. Die schwarzen Schatten der hohen Tannen wuchsen immer höher. Der Hirte musste heimkehren. Im Stall war ja heute kein zweiter Hirte zur Aushilfe da. Wie hässliches Nachtgetier frassen Angst und Zweifel an seinem Vaterherzen. Nach getaner Stallarbeit wollte der Hirte weitersuchen. Vielleicht war der Kleine in der Nachbarschaft gut aufgehoben. Wenn nicht — der Mann mochte nicht weiterdenken — ja, dann war seine Lebenssonne erloschen!
Müde und schwer wurde sein Gang, je näher er der Riggisalp kam. Schon wollte er leidbeladen am Zwergenloch vorüber. Da stutzte er. War’s möglich? Träumte er? Von der Felsspalte her tönte ihm wie Musik silberhelles Kinderlachen entgegen! Nein, es war kein Traum — süsse, beglückende Wirklichkeit! Am Felsrand sass sein Hansli, sein Fleisch und Blut. Gesund und wohlauf sass er da. Nur das Hirtenkleidchen war staubbedeckt: «Schau, Papa!» rief er strahlend aus. «Schau die schöne Kugel! Ein lustiges, kleines Männchen mit einem langen Bart hat sie mir geschenkt.» Der glückliche Vater packte den Kleinen und presste heisse Küsse auf den purpurfrischen Kindermund, erst jetzt, nachdem der überquellende Strom der Freude sich gelegt hatte, schaute er das gelbglitzernde Ding in der Kinderhand an. Wahrhaftig, gleissendes, echtes Gold hatte der kleine Glücksbub. Ein grosses Vermögen für den einfachen Hirten. Ein längst ersehnter Herzenswunsch steigt aus den untersten Winkeln seiner Seele: selbständig sein! Jetzt kann er diesen Wunsch erfüllen. Ein kleines Heimetli im Oberland wird er erstehen können mit dem Goldschatz vom Zwergenloch. Dann muss er nicht mehr in fremden Diensten stehen; auf eigener Scholle wird sein Brot wachsen und reifen.
Hansli wundert sich, wie froh und gesprächig diesen Abend der sonst so wortkarge Vater ist. Er weiss ja nichts vom Schmerz und von der würgenden Angst, die sein Vater um ihn ausgestanden hat. «Papa, wie lieb bist du heute!», schwatzt die ahnungslose Unschuld. Der raue Senn drückt seinen Buben an sich; Wange an Wange flüstert er ihm zu: «Hansli, Du hast mir halt heute Glück gebracht! Ja, das Glück vom Zwergenloch.»
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.