Ein merkwürdiger Versehgang

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Der weisshaarige Pfarrherr von Duens (Düdingen) hatte soeben die Werktagsmesse gelesen. Nach beendeter Danksagung schritt er gemessenen Ganges seiner Wohnung entgegen. Grad wollte er durch das blumenprächtige Vorgärtlein treten, als er vom Friedhof her angerufen wurde. «Herr Pfarrer, wartet ein wenig!» Ein junger, hübscher Bursch war’s, der sich jetzt ehrfürchtig dem Seelsorger näherte. «Guten Tag, Karli, wo pressiert’s?» fragte er freundlich. Es war der Jungknecht vom reichen Schiffenenbauer. «Herr Pfarrer, Ihr sollt gleich zum Bauer kommen. Er ist schwer erkrankt, es eilt», stiess der Jüngling atemlos hervor. An seinem geröteten Gesicht sah man, wie schnell er des Weges gerannt war. Der Geistliche war betroffen. Der Schiffenerbenz war bisher ein rüstiger Mann, dem noch nie etwas gefehlt hatte. «Gleich komme ich mit dem Allerheiligsten», antwortete der Pfarrer, «eil sofort zum Sigrist und benachrichtige ihn, damit wir ohne Verzug aufbrechen können.»

Im grossen bäuerlichen Paradebett, das nach damaliger Sitte mit einem Vorhang verdeckt war, lag stöhnend Benz, der Schiffenenbauer. Unruhig drehte sich der markige Kopf in den rotkarierten Kissen. Zeitlebens hatte Benz nur einen Gedanken gehabt: rastlos schaffen, werken, Geld verdienen. In der blumenbemalten Truhe lagen mehrere prall mit Talern gefüllte Geldsäcke. Der Bauer war an Gütern reich geworden. Dafür zeugten die vier blankgeputzten Milchkannen vor der Holzbeige und die zwei Ställe voll breitflankiger Kühe von echter Freiburgerrasse. Dem stattlichen Bauernhause mit den zwei kunstvoll geschnitzten Lauben und dem tief herablaufenden Schindeldach sah man schon von weitem die Behäbigkeit seiner Bewohner an. Und drinnen im altertümlichen Speicher waren die Kasten gefüllt mit goldgelbem Weizen.

Ja, reich an Hab und Gut war Benz, dennoch blieb er innerlich arm. Ihm fehlte das seelische Glück, der Herzensfrieden. Seitdem er seine einzige Tochter, die schwarzgelockte Christine, verstossen hatte, weil sie vom armen Schürliklaus nicht lassen wollte, seither war der Friede aus seinem habgierigen Herzen gewichen. Annemäi, seine herzensgute Gattin, hatte wohl alles versucht, den harten Sinn ihres Gemahles zu ändern. Aber sie erfuhr nur harte und böse Worte, und zuletzt verbot der Bauer kurzweg, darüber zu reden.

Klaus lebte in der Stadt in dürftigen Verhältnissen. Schlecht und recht suchte er seine zahlreiche Familie durchzubringen. Aber er war zufrieden, seine Kinder gediehen trotz der einfachen Kost, und an Christine hatte er eine verständige, treue Gefährtin. Nur eines fehlte dem vollständigen Glück: der Segen und die Freundschaft des Schwiegervaters. Doch da musste eben die Zeit helfen.

Stöhnend wälzte sich Benz im weichen Bett herum. Er fühlte, dass sein Leben langsam versickerte. Wenn nur der Priester rechtzeitig kommt! Es galt, mit dem Herrgott Ordnung zu schaffen. Filmartig rollte das ganze Leben an des Sterbenden Seelenauge vorüber. Ja, die Sache mit Klaus und Christine musste geordnet werden, sonst konnte er nicht ruhig in die andere Welt hinübergehen. Heute noch musste die Angelegenheit ins Reine gebracht werden. Morgen konnte es vielleicht schon zu spät sein.

Pfarrer Bertschy schritt, angetan mit weissem Chorrock und bestickter Stola, den Weg hinunter, voran der langjährige Sigrist. Sooft sie an einem Hause vorbeikamen, klingelte das silberne Glöcklein. Die frommen Landleute knieten dann zu Boden und beteten ehrfürchtig den verborgenen Heiland im Ziborium an, beteten für die arme Seele, die zum letzten Mal ihren Gott als ihre Wegzehrung in eine unbekannte Welt empfing.

Plötzlich trat ein Fremder dem Priester in den Weg. «Zurück, zurück!» rief er fast gebietend. «Ihr kommt zu spät, der Schiffenenbauer ist soeben gestorben. Spart euch den weiten Weg!» Sprach's, kehrte sich um und lief davon. Der Sigrist hielt an und blickte fragend auf den Priester. Aber Pfarrer Bertschy spornte zum Weitergehen an und stiess hastig hervor: «s'ist nicht wahr! Hast du nicht den Pferdefuss bemerkt, der dem Fremden unter den Kleidern hervorschaute? Beeilen wir uns, damit wir noch zeitig ankommen!»

Der Schiffenenbauer hatte ein langes Gespräch mit dem Herrn Pfarrer. Nachher empfing er ruhig und getröstet die heiligen Sakramente. Die Unruhe seines Herzens war wie ein Herbstnebel verschwunden. Ergeben unterwarf er sich dem Herrn über Leben und Tod. Der Seelsorger aber kehrte frohen Herzens heim. Eine Seele war dem drohenden Verderben entrissen. Des Bösen Arglist hatte nichts ausgerichtet. Am gleichen Tage schloss Benz, der Schiffenenbauer, seine Augen zum ewigen Schlafe.

 

Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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