Zwischen Brädelen und Praroman liegt das romantische Nessleratal, das vom gleichnamigen Bach, der auch dem Weiler den Namen gab, durchflossen wird. In der Richtung nach Praroman steht eine alte Säge, die heute elektrisch betrieben wird. Vor vielen Jahren, da noch das Wasserrad rauschte, war der «Mürejosi» (Müller Josef) an der Säge tätig. Er schilderte in seinen Greisenjahren ein Erlebnis, das er in jungen Jahren in der Nesslerasäge erlebt hatte.
Der Sägereibesitzer liess einst das Werk die ganze Nacht laufen, weil ein grosser Stoss Trämmel (Baumstämme) sich angehäuft hatte. Die Septembernacht war milde. Mürejosi wollte die Nachtarbeit auf sich nehmen. Dazu goss noch der Vollmond sein sanftes Licht über das schimmernde Tal. Alle Lichter waren schon gelöscht, nur die Säge war von einer Laterne erhellt. Durch die ruhige Nacht schnitt das Knirschen der nimmermüden Brettersäge. Gegen Mitternacht unterschied das scharfe Ohr des Knechtes zwischen dem eintönigen Geräusch der Säge ein fernes Murmeln und Brummen vieler Stimmen. Das wurde immer stärker und anhaltender. Die Stimmen kamen näher. Vorsichtig spähte der Knecht durch eine Fensterlücke auf die Strasse hinaus nach den späten Wanderern. Da erblickte er eine ganze Reihe fremder Menschen, die in Prozession durch die einsame Gasse zogen und beteten. Alle Teilnehmer waren in fremde Tracht gekleidet und gingen barfuss. Ihre Gesichter waren so blass und weiss wie Kalk. Ein wehmütig ernster Zug lag in denselben. Dem Mürejosi stieg ein Gruseln über den Rücken, doch die Neugierde war stärker.
Er unterschied von seinem Platze aus, alle Altersgruppen in der eigenartigen Prozession. Männer und Jünglinge, Grosse und Kleine, Frauen und Töchter waren dabei vertreten. Ihr Beten klang auch ganz fremd. Andächtig zogen sie hinter dem Kreuzträger nach, ohne rechts oder links zu schauen; in der Mitte trug ein Mann eine Kreuzfahne. So leise und geräuschlos traten die Beter auf, als ob sie den Boden nicht berührten. Die nächtlichen Waller zogen durchs Dörfchen und nahmen die Richtung gegen die Gomma hinauf, St. Silvester zu. Im hellen Licht des Vollmonds sah sie Mürejosi im Hohlweg verschwinden. Zurück sah man sie nicht kehren.
Der Mürejosi schlug ein grosses Kreuz und begann in seinem Grausen zu beten zur seligsten Jungfrau und zu seinem Schutzpatron. Er erwartete von dieser nächtlichen Prozession nichts Gutes. Ihrem Benehmen nach waren es nicht Menschen von dieser Welt. Sie hatten ein geisterhaftes Aussehen. Daraus schloss der Knecht, dass die sonderbaren Wallfahrer vielleicht arme Seelen gewesen seien, die aus irgendeinem Grunde noch nicht erlöst waren. Er fragte anderntags seine Nachbarn, ob nicht eine Wallfahrt zum St. Silvester-Kirchlein gezogen sei. Aber niemand hatte eine solche erblickt. Diese Wahrnehmung bekräftigte den Mürejosi in seiner Meinung, doch behielt er sein nächtliches Erlebnis für sich und erst kurz vor seinem Lebensende kam er darüber mit seiner Familie zu sprechen.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.