Zwischen Heitenried und Lehwil verbreitete ehemals ein furchterregendes Ungetüm Schrecken unter den Landleuten und machte mit seinem Treiben die Wege unsicher. Man hiess es nur den «Tannbock», weil das Gespenst in der Gestalt eines wüsten, schwarzen Geissbockes sich zeigte. Abends nach dem Angelusläuten bis zum dämmernden Morgen trieb der Tannbock sein Unwesen.
Einst ging am frühen Morgen ein Schneider von Mellisried nach Lehwil auf die Stör. Als er durch den nahen Wald beim Schwellibach schritt, hörte er im Waldesdunkel das Schreien des Tannbockes. Den Schneider packte der Übermut, und er ahmte den hässlichen Schrei des Ungeheuers nach. Dazu fügte er noch einige Spottreden hinzu. Auf einmal hörte er ein wildes Stampfen und Schnaufen hinter sich: der Bock hatte des Schneiders Neckereien vernommen und raste nun racheschnaubend heran. Bevor der erschrockene Meister Zwirn sich in Sicherheit bringen konnte, war ihm der Tannbock schon auf die schmalen Schultern gesprungen und krallte sich am Rücken des Männleins fest. Mit entsetzlichem Schrei hetzte der erwischte Spötter fort nach der nächsten Behausung, die aber in ziemlicher Entfernung lag. Das hockende Gespenst blies dem Flüchtenden seinen giftstinkenden Atem ins Gesicht. Als der Schneider endlich keuchend und schwitzend vor den ersten Bauernhäusern von Lehwil anlangte, liess der Tannbock plötzlich sein Opfer los, und mit einem gewaltigen Satz sprang er über die grünen Wiesen fort. Dem erlösten Schneider war es vorerst nicht ums Arbeiten. Der ausgestandene Schrecken hatte ihm so sehr zugesetzt, dass er während dreier Tage das Bett hüten musste.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.