An der Bergstrasse, die von Galmis nach Jaun führt, steht, von einer Fluh überdacht, eine geräumige Kapelle, die sogenannte Felsenkapelle (Notre Dame du Pont-du-Roc). Über deren Entstehung berichtet die Legende folgendes:
Ein vornehmer Ritter von Galmis unternahm einst einen Spazierritt nach dem malerischen Jauntal. Währenddessen entlud sich in den Bergen ein schweres Gewitter. Als der Edelmann gegen Abend heimkehren wollte, fand er den Jaunbach hoch angeschwollen; das Wasser war schon über die Ufer getreten. Die reissenden Fluten ergossen sich über die ganze Talbreite und barsten gurgelnd an der Felsenwand. Der Ritter jedoch liess sich darob nicht abschrecken und trieb übermütig sein Ross durch die schmutzig gelben Wogen. Er meinte, der Durchgang sei leicht zu erzwingen. Bald musste er aber die Unmöglichkeit seines tollen Unternehmens einsehen. Er geriet in die gefährliche Strömung, die alle Gegenstände, die in ihren Bereich kamen, dem Felsen entgegentrieb, wo sie unfehlbar zerschmettert wurden. Die Nacht brach herein.
Der tapfere Ritter kämpft verbissen gegen den drohenden Tod. Ein nasses Grab öffnet sich ihm. Schon versinkt sein braves Streitross in den gurgelnden Wassern. Die wilden Wogen reissen den Reiter widerstandslos fort. Schreckliche Angst bemächtigt sich des sonst tapferen Recken. Er glaubt sich unrettbar verloren. Vor seinen schwindenden Sinnen steigt das liebliche Bild der Himmelskönigin auf. Mit letzter Kraft ringt es sich inbrünstig von des Versinkenden Lippen: «Hilfe der Christen, Meeresstern, du kannst und wirst mir helfen». Dort an der schirmenden Felsenwand gelobt der Ertrinkende der Gebenedeiten ein Heiligtum zu errichten, wenn sie ihm aus der Todesgefahr hilft.
Nur sekundenlang hat das Stossgebet des Bedrängten gedauert, denn mit Blitzesschnelle werfen ihn die kalten Fluten gegen den Felsen hin. «Dort wird mein Kopf zerschmettert werden», denkt der Unglückliche schaudernd. Dann sinkt er im Strudel unter. Mit seinem Leben scheint es zu Ende zu gehen. Doch nein! Eine heraufbrausende Welle packt den Ertrinkenden und mit neuem heftigem Stoss umgeht sie die gefährliche Stelle und fährt ihn bis zu einer langästigen Weide. Wie rettende Arme streckt ihm der Baum seine Äste entgegen. So gelingt es dem Erschöpften, wieder das sichere Land zu gewinnen. Ganz ermattet, aber dennoch glücklich über die erlangte Rettung, sinkt der Edelmann zu Boden und dankt seiner mächtigen Helferin.
Schon nach zwei Wochen kamen Maurer und Zimmerleute und errichteten im Schutze des Felsens ein bescheidenes Kapellchen. Darin wurde ein Muttergottesbild mit schwarzem Antlitz aufgestellt, zu welchem die Talbevölkerung eifrig ihre Zuflucht nahm.
Nach einem halben Jahrhundert war das kleine Heiligtum baufällig geworden. Niemand wollte sich indessen zu seiner Instandsetzung finden, bis eines Nachts ein herabfallender Felsblock das Bethäuschen zertrümmerte. Erst jetzt fanden sich hilfsbereite Hände zum Aufbau ein. Unter der Mithilfe des Pfarrers von Galmis entstand eine neue und grössere Kapelle. Noch heute erfreut sie mit ihrem zierlichen Türmchen das Gemüt des gläubigen Wanderers wie des frommen Hirtenvolkes. Und wenn in heissen Sommertagen dicht besetzte Verkehrsautos am Kapellchen vorbeiflitzen in die erhabene Bergesstille, grüsst wohl unbemerkt ein christliches Herz die schirmende Madonna in ihrem weissen Gehäuse als Schutzherrin gegen drohende Naturgewalten.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.