Im hochgelegenen Dörfchen St. Silvester lebte vor einigen Jahrzehnten ein heiligmässiger Kaplan, Neuhaus mit Namen; das Volk heisst ihn kurzweg «Husli». Er stammte aus Oberschrot, war später Pfarrer in Jaun, nachher Kaplan von St. Silvester. Seine letzte Ruhestätte ist in Giffers, wo er starb. Wegen seines tugendhaften Lebens und seines leutseligen Wesens wurde er bald in der weiteren Umgebung bekannt. Der Kaplan war sehr mildtätig gegen die Armen, denen er alles verschenkte, während er sich mit einem fadenscheinigen Talar begnügte. Um die Gestalt dieses musterhaften Priesters hat sich ein blütenreicher Sagenkranz gebildet, ein beredtes Zeugnis seiner Volkstümlichkeit. Diese Sagen setzen ihm gleichsam ein geistiges Denkmal beim Volke, in dessen Gedächtnis der fromme Husli lebendig weiterlebt.
Der unscheinbare Pfarrer hatte manchmal die Spottreden seiner Mitbrüder ruhig ertragen und ihre Geringschätzung ihm gegenüber geduldig hingenommen. Dafür wollte er ihnen einmal einen harmlosen Streich spielen. Einst versprach er ihnen bei einem Patronsfest, nach der Mahlzeit ein Kunststück zu zeigen. Er liess sich einen «Chriesenchratten» (geflochtener enger Korb zum Kirschenpflücken) geben. Mit demselben ging Husli hinaus zum Brunnen und füllte ihn voll mit Wasser. Solcherart trug er das sonderbare Wassergefäss zu den Herren in die Pfarrstube und stellte es mitten auf den Tisch vor die verdutzten Zuschauer. Kein einziger Tropfen drang durch die Löcher des Körbleins auf den Boden. Husli forderte die Anwesenden auf, den Weidenkorb wegzuheben. Doch ungeachtet des Zuredens des Wundermannes wagte keiner, den Korb vom Platz zu entfernen, aus Angst, dadurch das Wasser zu verschütten. Mancher Mitbruder dachte in ehrfürchtigem Staunen: «Der Pfarrer im fadenscheinigen Talar kann mehr als der gelehrte Priester im feinsten Talar.»
Husli war zufrieden mit der gelungenen Überraschung. Er nahm den Weidenkorb weg und schüttete das Wasser aus. Nachher empfahl er sich und trabte gemächlich seiner Pfarrei zu. Von demselben Tage an brauchte er die Schadenfreude oder geringschätzige Beurteilung nicht mehr zu fürchten. Um so mehr verbreitete sich der Ruf seines heiligmässigen Lebens in der ganzen Gegend.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.