Im hochgelegenen Dörfchen St. Silvester lebte vor einigen Jahrzehnten ein heiligmässiger Kaplan, Neuhaus mit Namen; das Volk heisst ihn kurzweg «Husli». Er stammte aus Oberschrot, war später Pfarrer in Jaun, nachher Kaplan von St. Silvester. Seine letzte Ruhestätte ist in Giffers, wo er starb. Wegen seines tugendhaften Lebens und seines leutseligen Wesens wurde er bald in der weiteren Umgebung bekannt. Der Kaplan war sehr mildtätig gegen die Armen, denen er alles verschenkte, während er sich mit einem fadenscheinigen Talar begnügte. Um die Gestalt dieses musterhaften Priesters hat sich ein blütenreicher Sagenkranz gebildet, ein beredtes Zeugnis seiner Volkstümlichkeit. Diese Sagen setzen ihm gleichsam ein geistiges Denkmal beim Volke, in dessen Gedächtnis der fromme Husli lebendig weiterlebt.
Einst wurde Husli zu einem Schwerkranken gerufen; der hatte schon jahrelang keine Ostern mehr gemacht. Hurtig eilte der Pfarrer mit dem Allerheiligsten zum Sterbenden, der auf St. Silvester-Gebiet wohnte, das damals noch zur Pfarrei Giffers gehörte. Der Weg führte über den Graben, dann über das steinige Geröll des Ärgerenbaches, der mit einem Holzsteg überbrückt war. Eine innere Stimme sagte dem Geistlichen, dass der Kranke in grosser geistlicher Gefahr schwebe. Möglichst schnell suchte der Seelsorger deshalb das jenseitige Ufer zu erreichen; er fürchtete einen schlimmen Streich des bösen Feindes. Deshalb liess er den alternden Sigrist zurück und eilte flink voraus. Als aber des Geistlichen Fuss den Steg betrat, schwoll der sonst ruhige Bach auf einmal an und floss über den Steg hinweg. Es schien mit Lebensgefahr verbunden, den überschwemmten Steg zu betreten. Mittlerweile keuchte auch der Sigrist heran. Beim Anblick der hochgehenden Wasser weigerte er sich, herüber zu kommen. Aber der Geistliche forderte den Unentschlossenen energisch auf, ihm nachzufolgen. Mutig schritt Husli durch die brausenden Wogen und ihm nach der zitternde Sigrist. Mit vieler Müh erreichten beide das Ufer, durchnässt nicht vom Wasser, wohl aber vom Schweiss. Und es war unbegreiflich zu sehen, wie sich nach dem Durchgang der Männer das Tosen des Baches gelegt hatte. Der Ärgerenbach hatte wieder die gewöhnliche Wassermenge und floss ruhig durch das Steingeröll. Das Anschwellen und Tosen des Wassers war nur ein Blendwerk des Bösen gewesen, der den eifrigen Pfarrer an der Ausübung seiner Pflicht verhindern wollte. Husli beschleunigte seine Schritte um das Versäumte nachzuholen. Er kam noch rechtzeitig, um den sterbenden Sünder mit seinem Gott auszusöhnen. Bald nach Empfang der heiligen Sakramente verschied der Kranke friedlich. Husli aber dankte dem Herrgott, dass es ihm gelungen war, eine unsterbliche Seele den Klauen des Erbfeindes zu entreissen. Mit Gottes Hilfe hatte der Gute die Wassernot überwunden und über die Hinterlist des Bösen gesiegt. Nie vergass der greise Sigrist diesen gefährlichen Versehgang.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.