a) Im wildzerklüfteten Plasselbschlund liegt die Bergweide Spittelvorsatz. Altersgraue Bergtannen und breitästige Fichten umfrieden diesen Fleck Einsamkeit mit ihrer urwüchsigen Majestät. Auf der würzigen Trift weiden rot- und schwarzscheckige Kühe und Rinder. Mit Vorliebe führen die behäbigen Bauern des Oberlandes ihr Vieh auf diese AIp; denn sie wissen, da wächst saftiges Alpengras, das rundet die schweren Leiber der Milchkühe. Und wenn die Zeit der Talfahrt anhebt, am sogenannten «Schafscheid», kehrt das gesömmerte Vieh mit trommeIrunden Leibern und glattgestriegeltem Fell, bimmelnd und läutend in die heimatlichen Ställe zurück.
Es gab aber eine Zeit, da traf das Gegenteil zu. Das war in jenen Jahren, als noch der Kienspan die Petrollampe vertrat und die Landleute in Zwilch und Leinen gekleidet, bei Milch, Käs und Schnitzen ein geruhsames, dafür umso gesünderes Leben führten.
Da brach in einem Sommer auf den Bergen eine schlimme Viehseuche aus. Sie wütete am heftigsten im Spittelvorsatz, wo Peter Rätzo mit seiner Familie als Hirt fleissig seines Amtes waltete. Alle Sorgfalt und Pflege, welche der Hirte seinen gehörnten Untertanen erwies, konnte das gefürchtete Gespenst der Seuche nicht fernhalten. Eines Tages frass die beste und schönste Milchkuh nicht mehr; sie gehörte dem reichen Ratsherrn Fegely, der im Sensegebiet ein ausgedehntes Anwesen besass. Rätzo gab dem kranken Tier einen Heiltrank ein und hüllte es vorsorglich in warme Decken. Doch am nächsten Morgen fand er die prächtige Ratsherrenkuh steif und tot auf dem Stroh liegen. Dem treuen Rätzo lief das helle Augenwasser über die stoppeligen Backen, als er das Prachttier verendet fand. «Gerade diese Kuh musste das Unglück treffen!» jammerte er und raufte sich wehklagend die Haare. «Das beste und schönste Stück unserer Herde ist dahin!» Am anderen Morgen traf den armen Hirten ein neuer Schlag: seine brave Bless lag mit glasigen Augen leblos da. Auch die benachbarten Hirten im Rosel und auf Muschenegg hatten schwere Verluste zu beklagen. Doch über Spittelvorsatz schien das Seuchengespenst seinen ganzen Giftvorrat ausgespien zu haben. Ein ganzes Dutzend wertvoller Haustiere hatte die Seuche verschlungen, 12 traurige Lücken klafften vor der langen Futterkripfe.
Da traten die Sennen in ihrer Not zusammen und machten folgendes Gelöbnis: «Wenn Gott auf die Fürbitte unseres hI. Patrons Silvester unsere Alpe, unser Vieh und unseren Stadel von der fürchterlichen Seuche befreit, machen wir dieses feierliche Versprechen: Jedes Jahr wollen wir am «SantivaschteIstag» (Silvestertag) früh beim ersten Hochamt einen fetten Emmentalerkäs von einem Zentner Gewicht und eine schwere «Hama» (Schinken) zu Ehren unseres Heiligen opfern».
Der Himmel nahm der Älpler Gelübde gnädig an. Ihr Vertrauen auf den heiligen Viehpatron wurde belohnt; die verheerende Krankheit erlosch. Gesundheit und Wohlstand zogen wieder in die wettergebräunte Alpenhütte ein. Prächtig wie zuvor gediehen die Wiederkäuer. Getreu erfüllten die Hirten ihr Gelöbnis. Wie staunten die Leute von St. Silvester, als am Patronsfest in aller Früh vor dem Altare ihrer schlichten Dorfkirche, auf einem Reff ein mächtiger Käs, gross wie ein Wagenrad, zu sehen war, daneben ein pfundiger, fein geräucherter Bauernschinken.
Mit der Zeit änderte Spittelvorsatz seinen Besitzer; andere Hirten zogen herauf, nicht so fromm und brav wie ihre Vorgänger. Sie vergassen bald das gemachte Versprechen, sollten aber ihre Vergesslichkeit teuer bezahlen. Eines Tages stürzte die schönste Kuh in einen Abgrund, wo sie notgeschlachtet werden musste. Von dieser Zeit an prangt regelmässig am Silvestertag in der Pfarrkirche die übliche Weihegabe der Älpler.
b) Ein ähnliches Vorkommnis wird vom Gantristvorsatz berichtet. Dort mussten infolge einer Seuche alle Kühe und Schweine notgeschlachtet werden. Ja, wegen der Gefahr der Weiterverbreitung mussten die Sennen, die mit der Verscharrung der Tierleichen beauftragt waren, sich sogar der Werktagskleider entledigen, welche sie bei dieser traurigen Arbeit getragen hatten. Die alten Kleider wurden verbrannt und neue dafür angeschafft. In dieser Notlage sollen die Sennen das Gelübde abgelegt haben, zu Ehren des heiligen Silvesters eine fette «Hama» und einen «feisten Chäs» zu opfern.
Früher brachten auch die Landleute bei ihren Wallfahrten zum heiligen Viehpatron Silvester Gaben in Naturalien zum Opfern mit, so z.B. geräuchertes Fleisch, Speck oder ein Rippli. Noch gegenwärtig kommen solche Spenden, wenn auch seltener, vor.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.