In einem abgelegenen Häuschen lebte einsam ein betagtes Ehepaar. Nach frommer Vätersitte beteten die Alten jeden Abend den Rosenkranz. An einem regnerischen Novemberabend, als Benz und Marianne wieder zum grobkörnigen «Nùschter» griffen, sprach der Greis zu seinem Weibe: «Diesen Rosenkranz wollen wir für die unbekannten, vergessenen armen Seelen aufopfern, es gibt ja deren so viele.» Und das ärmliche, von einer Petrollampe schwach beleuchtete Stübchen widerhallte vom andächtigen Beten der Alten. Ein Ave ums andere stieg von den zittrigen Lippen hinauf zum Throne Gottes, wo es wohlgefällig angenommen wurde. «Trapp! trapp! trapp», huschte es plötzlich ins friedliche Stübchen. Benz schaute auf, ob etwa ein Unbekannter hereingetreten sei. Aber der Beter erblickte niemanden — wieder ertönte das Geräusch leise auftretender Füsse. Auf einmal erblickte der Mann zuerst eine zierliche Kinderhand, dann ein rosenrotes Kinderfüsslein von einem etwa 6jährigen Kinde, der Leib blieb unsichtbar.
Das hübsche Kinderfüsslein trabte eine Zeitlang im Stübchen umher. Plötzlich verschwand es lautlos, wie es eingetreten war. Der erschrockene Benz betete mit seiner Gattin den Rosenkranz zu Ende. Die Frau hatte vom ganzen Vorfall nichts bemerkt. Nach dem Gebet teilte ihr der Mann sein Erlebnis mit. Er war des Glaubens, die merkwürdige Erscheinung sei der Geist eines Kindes gewesen, das wegen eines begangenen Fehltrittes im Jenseits keine Ruhe gefunden hatte. Es wollte die andächtigen Beter um Hilfe bitten. In dieser Meinung verdoppelten die guten Leute ihr Gebet für die Erlösung des Verstorbenen. In der folgenden Nacht schon blieb die Erscheinung aus.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.