Die redenden Haustiere

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Ein weitverbreiteter Volksglaube behauptet, die Tiere könnten reden in der Heiligen Nacht, da unser Herr im armen Stalle geboren wurde. Eine Begründung hiefür mag darin zu finden sein, dass in der ersten Christnacht die unvernünftigen Tiere das Jesuskind beherbergten, während vernunftbegabte Menschen es hartherzig von sich stiessen.

 

a) Ein Zuger Bauer nahm sich vor, dem Gespräch seiner Kühe zu lauschen. In der Christnacht schlich er sich auf den Heuboden. Dort stellte er sich vorsichtig an die Öffnung, durch die im Winter das Heu in die Futterkrippe hinabgeworfen wurde. Da hörte er auf einmal im Stall eine Stimme fragen: «Wo ist der Bauer?» Auf dem Heuboden», antwortete eine zweite. Die dritte fuhr wehmütig fort: «In drei Tagen muss ich ihn auf den Friedhof führen.» Das war das treue Ackerpferd, das so sprach. Dem Bauer gab es einen Stich ins Herz. Ohnmächtig fanden ihn seine Knechte am andern Morgen und legten ihn ins Bett. Drei Tage danach starb der Kranke, nachdem er den Seinen noch das Gespräch der Tiere mitgeteilt hatte.

 

b) Einem Freiburger Bauer ging es besser. Er schlich sich in der Heiligen Nacht hinaus in die Futtertenne. Um Mitternacht, als es im Dorfe zur Christmette läutete, hielt er das rechte Ohr an ein Astloch der Bretterwand, welche Tenne und Stall trennte. Hier bekam er alsbald Merkwürdiges zu hören. Die Blesskuh begann: «Wenn unser Bauer wüsste, welches Glück ihm bevorsteht!» Die Schwarzscheckige fragte: «Was für eins?» Die andere gab zur Antwort: «Im Mai bekommt er einen Stammhalter, nach dem er sich schon lange sehnt.» Und der Hahn krähte: «Ich weiss auch etwas. Drunten in der Wiese liegt ein Schatz.» Hinten im Verschlag meckerte die Ziege: «Wenn die Bäuerin wüsste, welchen Weg ihre Eier und Butter gehen.» «Wohin gehen sie?», fragte neugierig ein Schaf. «Die Eier verkauft die Köchin heimlich und kauft sich dafür schöne Kleider», erwiderte die altkluge Ziege; dabei schüttelte sie unwillig ihren braunen Kinnbart. «Die Butter nimmt der Knecht und bringt sie sonntags seinen Geschwistern. Für den Erlös kauft er sich Tabak und Branntwein.» Der horchende Bauer hatte genug und nahm sich das Gehörte zu Herzen. Er sagte keinem Menschen ein Sterbenswörtchen davon, nicht einmal seiner Frau. Nach den Feiertagen wunderten sich die Dienstboten, weshalb der Bauer auf einmal so neugierig im Stall und im Garten herumspürte. Als das Frühjahr anbrach, nahm der Bauer Spaten und Hacke und grub in seinem Acker nach; sein Suchen blieb nicht ohne Erfolg. Im sumpfigen Boden stak, ein Meter tief, eine blecherne Schachtel; als er sie öffnete, waren lauter Taler und Gulden darin, die dem Schatzgräber halfen, seine Schulden zu bezahlen. Den Schatz hatte ein Vorfahre in den Franzosenkriegen aus Furcht vor Raub in diesen sicheren Gewahrsam gebracht. Als im Mai die Kirschbäume blühten, klapperte eines morgens Gevatter Storch über dem Bauernhause, drinnen im blumenbemalten Bauernbett lächelte glücklich die Bäuerin; denn in ihren Armen lallte ein fesches Büblein seine ersten Laute in die Welt. Da konnte sich der Vater vor Freude nicht mehr halten. Er erzählte der staunenden Frau, was er schon seit der letzten Christnacht gewusst. Die Blesskuh und die Schwarzscheck, kurzum alle Haustiere, hatten sich in der Folge nicht zu beklagen. Sie wurden von ihrem Herrn gut gefüttert und behandelt. Nur die bejahrte Geiss brummte etwas Unverständliches in ihren Bart, wenn der kleine Franz sie zu arg an ihren zottigen Haaren riss oder sich an ihre Hörner hing.

 

Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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