Der Geistertrunk

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Das Wirtshaus in der Tsintre, einem Bergweiler bei Galmis (Charmey), stand in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht im besten Ruf. Man erzählte sich merkwürdige Dinge, die sich daselbst zugetragen haben. Einst kam eine brave Frau aus Jaun nach dem Weiler Tsintre. Ihr Weg führte am Wirtshaus vorbei, aus dem Lärmen und wüstes Gejohle abwechselnd mit grölendem Gelächter heraustönte. Dazwischen klirrten die Schnaps- und Weingläser. Hurtig wollte die Jaunerin an der Stätte der Ausgelassenheit vorübergehen. Da hielt sie ein Unbekannter an und forderte sie zum Eintreten auf, um miteinander ein Glas zu trinken. Die Frau wäre lieber weitergezogen; sie fürchtete indessen, durch ihre Weigerung den Unbekannten zu erzürnen und nahm deshalb, wenn auch mit innerem Widerstreben, die Einladung an. Schüchtern trat sie in die Wirtsstube. Darin erblickte sie nur fremde Gesichter. Auf dem Tische standen viele zierliche Trinkgläser, alle mit einem runden Fusse. Die Jaunerin wurde von den unbekannten Zechern fröhlich begrüsst und zum Mittrinken aufgefordert. Der Unbekannte, der sie zuerst angeredet hatte, bot der Frau einen wunderlich geformten Becher und tat ihr Bescheid. Die Jaunerin tat desgleichen und führte den Becher an ihre Lippen. Bevor sie aber den feurigen Wein kostete, betete sie in ihrem frommen Sinn: «Ich trinke im Namen der heiligsten Dreifaltigkeit». Die Wirkung dieses christlichen Trinkspruches hatte eine überraschende Wendung zur Folge. Denn kaum hatte die Jaunerin ihren Spruch beendet, verschwand die ganze lärmende Zechgenossenschaft, und alle Zier der Stube war dahingeschwunden. Statt des Glases hatte die Jaunerin einen Kuhfuss in der Hand und im Gefäss lag eine übelriechende Flüssigkeit. Daraus erkannte die Frau, dass sie sich in der Gesellschaft von Geistern befunden hatte. Sie dankte ihrem Schutzengel dafür, dass er sie vor grosser Gefahr bewahrt hatte. Hierauf beeilte sie sich, so schnell als möglich das verwunschene Wirtshaus zu verlassen.

 

Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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