Ein Jüngling wollte sich einst die Welt ansehen. Er bat deshalb seinen Dienstherrn um Urlaub. Gerne erhielt der fleissige Bursche denselben. Vor der Abreise gab ihm sein Herr den merkwürdigen Rat: «Bleibe auf deiner Wanderung immer auf der Strasse, schlage keine Seitenwege ein und vermeide vor allem Fusswege.» Willig versprach der Jüngling, den merkwürdigen Rat zu beherzigen; dann zog er frohgemut in die weite Welt hinaus.
Anfänglich hielt er sich genau an die Worte des Herrn. Nach einiger Zeit plagte ihn aber die Neugierde, zu erfahren, was es denn mit den Nebenwegen für eine Bewandtnis habe. Allzu gerne hätte er den Grund des seltsamen Wegverbotes erfahren.Bei der nächsten Wegkreuzung vergass der Wanderer die erhaltene Warnung. Die Neugier siegte über alle Bedenken. Keck schlug er den Seitenweg ein und marschierte mutig dahin, bis die Nacht hereinbrach. Da tauchte vor dem müden Burschen ein hell erleuchtetes Schloss auf. Der Unerfahrene hoffte, dort Erfrischung und Unterkunft für die Nacht zu bekommen. Entschlossen schritt er über den ungepflegten Gartenweg und klingelte an der Pforte. Ein goldbetresster Lakai öffnete und führte den Fremden ohne ein Wort zu sprechen in einen grossen hellen Saal. An reichbesetzter Tafel sassen festlich geputzte Herren und Damen in fremden Trachten und assen und tranken nach Herzenslust. Dazwischen führten sie in fremder Sprache eine lebhafte Unterhaltung miteinander. Die Gesellschaft kehrte sich gar nicht an den neuen Ankömmling. Gerne hätte er einige Fragen gestellt, nach der Herkunft der noblen Gesellschaft oder nach dem Namen des Schlosses. Aber der Diener gab ihm den strengen Befehl, kein Wort und keine Frage zu stellen, wenn auch Manches ihm rätselhaft vorkomme, sonst würde es ihm schlecht ergehen. Eingedenk dieser Mahnung setzte sich der Bursche an den Tisch, an einen leeren Platz und begann gierig zu kosten was ihm auf silbernen Platten dargeboten wurde: Braten, Geflügel, dazu schmackhafte Zutaten. Den Durst stillte er mit perlendem Wein. Aber der Becher hatte gleich den übrigen Gefässen die Form eines Totenschädels. Der Jüngling überwand ein aufsteigendes Grausen und tat den Tischgästen stumm Bescheid. Als eine Standuhr die Mitternachtsstunde schlug, erlosch mit einem Mal Licht, Gesellschaft und Schloss; alles schien wie vom Erdboden verschlungen. Keine Spur blieb mehr übrig vom festlichen Mahl. Der junge Wanderer stand ganz allein in finsterer Nacht mitten im unheimlich stillen Wald und hielt in seiner Hand statt des Bechers einen grinsenden Totenschädel. Schleunigst suchte der erschrockene Jüngling das Weite und mied fortan die gefährlichen Seitenwege die ihm solche unliebsamen Überraschungen brachten.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.