Durch den milden Novemberabend schreitet schwerfälligen Ganges ein Taglöhner. Einsam und ausgestorben ist die breite Landstrasse. Aus den nahen Bauernhäusern schimmert schon der gelbrote Widerschein der Lampen freundlich herüber. Einige Lichtstreifen erhellen da und dort die dunkle Strasse und erleichtern dem fremden Wanderer die Orientierung. Schon ist der Mann am kleinen Weiler Grünsberg vorbei, da sieht er in kurzer Entfernung ein winziges Lichtlein aufflammen. Grad auf ihn zu strebt das Licht; vor dem Verdutzten bleibt es stehen. Verwundert setzt der nächtliche Heimkehrer seinen Weg fort. Aber das geheimnisvolle Lichtlein weicht nicht von seiner Seite. Bald hüpft es rechts, bald links, dann schwebt es hartnäckig vor dem Gehenden her. Dem Taglöhner wird das neckische Spiel des roten Flämmchens doch zu bunt.
«Geh’ weg! Ich brauche kein Licht; ich finde meinen Weg auch im Dunklen!» ruft er zornig dem flammenden Spuk zu. Es ist ihm nicht ganz geheuer bei dem Erlebnis. Kaum sind die unfreundlichen Worte verklungen, verschwindet das geisterhafte Leuchten. Aber mit einem Male verspürt er auf seinem Rücken eine fremde Last. Zentnerschwer beugt sie den arbeitsgewohnten Mann darnieder. Plötzlich spricht eine Geisterstimme in ängstlichem Flehen: «Willst du mir dreissig Messen lesen lassen, die ich bei Lebzeiten versprochen, aber nicht bezahlt habe?» Die Stimme seiner verstorbenen Schwester ist’s, die zum Erschrockenen redet. Vor einem halben Jahr war sie eines plötzlichen Todes verschieden. Bei Lebzeiten hatten sich die Geschwister nicht gut vertragen. Eine leidige Erbschaftsgeschichte hatte sie einander entfernt. Jedes war seither seinen eigenen Weg gegangen. Der alte Groll frass in ihren Herzen, bis der Schnitter Tod denselben beendete.
Blitzschnell fährt dieser Gedanke dem Bruder durch die Seele. Er fühlt sich mitschuldig an der Unruhe der verstorbenen Schwester. Bereitwillig verspricht er, die schuldigen Messen lesen zu lassen, damit die arme Seele ihren ersehnten Frieden erhalte. Im Drang der Geschäfte vergass der Gemahnte sein Versprechen. Immer länger schob er dessen Erfüllung hinaus. Aber das Seelenlichtlein liess dem Vergesslichen keine Ruhe mehr. Es begegnete ihm öfters auf dem Heimweg, bis der verängstigte Bruder endlich die versprochenen Seelenmessen bei den «braunen Vätern» in der Murtengasse nacheinander lesen liess. Erst nach dieser erfüllten Liebespflicht liess ihn das unruhige Lichtlein in Frieden.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.