Der Marksteinversetzer von Grauholz

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Vor vielen Jahren sahen die Leute von Rechthalten auf der Strecke Grauholz—Brünisried vielmals ein geisterhaftes Wesen. Es trieb sich auf der üppigen Wiese herum, die sich zwischen zwei dichten Wäldern lagert. Zwischen den Wäldern steht eine alte Hütte. Darin wohnte einst ein armes Bäuerlein. Es hatte viele Schulden und konnte gar nicht zu Vermögen kommen. Darum war das Männlein unzufrieden und haderte mit Gott. Der Versucher nahte sich dem Unzufriedenen und flüsterte ihm Böses ins Ohr. Allzu willig gab der Bauer nach. Bei der günstigsten Gelegenheit ging das Männlein in die Waldlichtung, grub daselbst die Marksteine; nachher rodete es ringsum Streifen Waldes aus und setzte die Grenzsteine zurück. Niemand hatte dem Treiben des Mannes zugeschaut. Der Bauer besass ein gutes Gewissen und war der Meinung, die gemachte Landerweiterung sei nichts Unrechtes. Also starb er in diesem Glauben.

Nach dem Tode aber fand die arme Seele keine Ruhe. Sie musste am Ort des begangenen Unrechtes herumgehen. So kam es, dass die Leute sagten, auf der «Rüdiweid» geistere es. Nicht nur Kinder, auch Erwachsene fürchteten sich vor diesem Ort und mieden ihn, soviel sie konnten. Wer abends nach dem Gebetläuten durch diese Gegend kam, bemerkte regelmässig Gespenster. Oft hegten die Leute den Wunsch, dem verhexten Ungeheuer ein Ende zu machen. Aber niemand wagte sich des Nachts an diese schwierige Aufgabe, keiner hatte den Mut, die arme Seele zu erlösen, indem man sie nach ihrem Begehr fragte. Mancher Prahlhans hatte im Schrecken die Flinte ins Korn geworfen, wenn es galt, dem ruhelosen Gespenst Frage und Antwort zu stehen.

An einem Sonntagabend stolperte ein stämmiger Bursche in betrunkenem Zustand durch den Wald. Als er auf die Wiese kam, sah er den Geist: einen Mann mit einem schweren Grenzstein unterm Arm. Schaurig hallte die Geisterstimme durch die nächtliche Waldesstille: «Wo soll ich ihn hintun? (wo sou ne tue, wo sou ne tue?). Der Betrunkene kannte in seinem Dusel keine Furcht vor Gespenstern. Deshalb gab er dem Rufenden tapfer zur Antwort: «Tue ne doch, wa dù ne gno hesch» (Tue ihn dort, wo du ihn genommen hast). Mit dieser scherzhaften Antwort hatte der lustige und unerschrockene Zecher den ruhelosen Marksteinversetzer erlöst.

Das Gespenst verschwand und liess sich nie mehr blicken. Die öde Waldwiese ist noch heute für furchtsame Gemüter ein unheimlicher Ort, voll grauenerregender Erinnerung.

 

Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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