Viel wird unter dem Volke erzählt von Totenprozessionen und mitternächtlichen Geisterwanderungen. Es gibt manche Personen, meist weiblichen Geschlechtes, auch Temper-(Quatember-) Kinder genannt, welche eine eigene Gabe haben, solche Prozessionen zu schauen. Da sind es oft lange Reiben von unbekannten Toten, an die sich die Gestalten einiger bekannter Verstorbenen oder noch Lebenden anschliessen, von denen man vermutet, dass sie als die Ersten ins Geisterreich hinüberwandern werden. Uns auffallend ist es, dass diese Totenschau nicht selten sich erwahrt. Oft werden auch Lebende hineingezogen und müssen mitwandern. So ging es einem Manne in Sitten, als er eines Abends spät über den Kirchhof wandelte. Wie er bei der grossen Kirchtüre vorbei wollte, trat eben ein langer Zug verschleierter und in weisse Kleider gehüllter Beter heraus, der sich nach der St. Theodulskirche richtete. Alle trugen brennende Kerzen in den Händen und es war als rauschte gewaltiger Wind durch die Wipfel der Bäume. Als der Letzte aus der Kirche trat, bot er dem stummen Beobachter auch eine brennende Kerze. Wie er die Kerze anfasste, durchrieselte kalter Schauer seine Glieder; er wollte fliehen und doch zog es ihn hin, den geheimnissvollen Zug zu dieser ungewöhnlichen Stunde mitzumachen. Er nahm sich ein Herz und ging mit. Eben schlug es zwölf Uhr und die dumpfen Schläge mischten sich seltsam in den unverständlichen Chor der Beter. Die ganze Theodulskirche stand in hellen Flammen und schien dicht gefüllt; unser Erzähler befand sich allein da unter Unbekannten, obwohl ihm mehrere Gestalten als ganz bekannt vorkamen. Eine Stunde verging, er wusste nicht, wie lang oder kurz sie war, so hatte ihm das seltsame Schauspiel die Sinne verwirrt. Und mit Schlag ein Uhr, husch! da löschen alle Kerzen aus, und durch die öden Räume rauscht es wie wenn Schädel und Totengerippe an einander stossen, und der verwegene Beobachter befindet sich ganz allein in der stockfinstern Nacht und hält statt der Kerze einen Knochen in der Hand. — Die St.-Theodulskirche blieb früher Tag und Nacht offen, weil da dasTodesangstglöcklein geläutet wird, wenn jemand stirbt.
(erzählt von Professor Henzen)
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch