Eine halbe Stunde ob dem Pfarrdorfe in Visperterminen steht in reizender Einsamkeit des Waldes eine schöne, vielbesuchte Wallfahrtskapelle. Unter den vielen Votivtafeln, die ringsum an der Mauer hangen, fallen auf ein Hufeisen und eine Haarflechte. Darüber geht folgende Sage:
Ungefähr fünfzig Minuten ob der Kapelle, wo der Wald nun zu Ende geht, war vor vielen Jahren in einer Ebene ein stattliches Dorf, in dem ein Hufschmied, Ruspeck mit Namen, seine Schmiede hatte und wacker zuhämmerte. Beim Graben einer Alphüttenhofstatt fand man da noch unlängst Kohlen und Eisenschlacken. — Eines Morgens kam ein fremder Reiter in vollem Galopp zu seiner Werkstatt und verlangte, eilig sein Pferd beschlagen zu lassen; er habe Geschäfte im Dorfe, werde gleich wieder kommen, es zur Hand nehmen und bezahlen.
Der Meister und sein Gehilfe machten sich hurtig an die Arbeit und begannen eben munter aufzuschlagen, als sie das Pferd deutlich jammern hörten: «Schlage nicht so hart, du schlägst dein Fleisch und Blut; denn ich bin deine Tochter, die du verwünschet hast und nun der Teufel reitet. — Doch mach geschwind fertig und binde mich los; es ist heute der letzte Tag, an dem mich der Teufel allein lässt und ich ihm etwa noch entlaufen kann. Ich werde nur frei, wenn ich, ehe er mich wieder einholt, über neunundneunzig Friedhöfe setzen kann.» — Wie versteinert horchten Vater und Sohn, der Gehilfe, zu. Sie taten schnell was ihnen befohlen, und — fort war das Pferd.
Der fremde Reiter liess nicht lange auf sich warten. Mit Ungestüm forderte er sein Pferd wieder. Trotzig antwortete Ruspeck: «Du hast mir nur befohlen das Pferd zu beschlagen, nicht aber selbes zu hüten. Ich will meinen Lohn; das Übrige geht mich nichts an.» Über diese barsche Antwort stutzig, zahlte der Fremde und rannte in Sturmes Eile davon. — Vater und Sohn kehrten zur Familie heim; Alle begannen mit Eifer zu beten für die Erlösung ihrer unglücklichen Tochter.
Nach drei Tagen kehrte diese befreit ins väterliche Haus zurück und erzählte, wie sie der Satan auf dem letzten Friedhofe eingeholt und am Schweife fest ergriffen habe. Mit einem letzten, mächtigen Kraftsprunge setzte sie, den Schweif in Satans Händen zurücklassend, hinüber und — entzaubert und gerettet lag sie auf dem Boden. Voll Zorn warf ihr Satan die Hufeisen und die ausgerissene Haarflechte dar, welche sie aufhob, nach langen Tagereisen heimbrachte und in der Waldkapelle der Muttergottes zur Erinnerung dankbar aufhenkte. — Neben der Haarflechte und dem Hufeisen, das der frohe Vater aus den vieren zusammenschmiedete, hängt noch ein Blumenkranz an der Wand, welcher sagen will: «Ruspecks Tochter wäre dem Teufel nicht entgangen, wäre sie nicht eine Jungfrau gewesen.»
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch