Im Keller der Gemeinde Törbel steht eine alte Weinkufe. In der Mitte der Kufe ist ein etwas verdächtiges Spundloch — man möchte sagen, geeignet zum heimlichen Weinabzapfen. — Der Schreiber dieser Sage hat die Kufe mit dem Nebenloch gesehen, sowie den runden Stein neben der Kellerstutt, auf den sich der Gewaltshaber zu stellen pflegt, wenn er den Gemeinderat präsidieren oder demselben etwas vortragen will.
Wenn zu Weihnachten oder am "Grossen Vergeb" (Fronleichnamstag) beim altherkömmlichen Trunke die grosse Gemeinde im Gemeinhause behaglich mit den Bechern tagt, halten die Vorsteher auch ihre Sitzungen drunten im Gemeinkeller. Natürlich können diese erst eröffnet werden, nachdem ein paar "B'scheide" (Holzbechervoll) — die ersten passieren hurtig, — eingeschenkt sind. Wenn sich die Rede-Töne in der Gemeinstube der obern Oktav nähern und die Saiten gar zu springen drohen, so merkt es der Gewaltshaber im Keller, woran es ist; er bricht die Sitzung ab, gibt jedem Ratsgliede eine volle Grossdoppelkanne (Marjosi) in die Hand, nimmt selbst eine und eröffnet damit den Zug ins Gemeinhaus. Beim Anblick der Kannen fällt auch der Ton gleich um eine Terz oder Quint und schlägt bald ins alte traute Summen wieder um.
Der Steinplatte bei der Kellerstutt, wovon oben, fehlt die schuldige Ehrfurcht nicht. Ausser dem Gewaltshaber getraut sich gewiss nie ein anderes Menschenkind, so grau auch seine Bürger- oder Vorsteherhaare geworden wären, je den Fuss darauf zu setzen. Kommen Uneingeweihte in den Gemeinkeller und erfrechen sich selbe etwa darauf, so wird ihnen gleich abgeboten. — Vor mir hatte man so viel Respekt, dass man mich an die grosse Ehrwürdigkeit des Gewalthabersteines erst dann mahnte, als ich mich darauf zur Genüge herumgebeugelt und zufällig die Steinplatte wieder verlassen hatte. — Gott habe die guten Leute selig!
Dock kehren wir zur Kufe zurück, die von einem alten Gewaltshaber Müller, der Sage gemäss, den Namen hat. Wenn dieser zu Gemeinzwecken Wein haben wollte ohne viel Geräusch, d. h. nicht gerade den grossen Ponten (Zapfen, Stöpsel) ziehen wollte, so benützte er das oben bezeichnete Nebenloch. Der Gewaltshaber war übrigens von erprobter Rechtschaffenheit und viele Jahre im Amte; doch einst passierte ihm auch etwas Menschliches. — Als er der Gemeinde einen grossen Trunk mit Käs und Brod gegeben und allen Gemeinden die gleichen B'scheide eingeschenkt und Brot und Käs im bestimmten Mass und Gewicht ausgeteilt hatte, blieben eine Doppelkanne Wein und zwei Brote übrig. Er meinte, das sei doch zu wenig, um allen gleich auszuteilen: brachte es darum den Seinigen nach Haus, weil er für die grosse Mühewaltung doch keinen andern Lohn habe.
Nach Jahren starb der wohlverdiente Gewaltshaber: aber seine Seele fand in der Ewigkeit die gewünschte Ruhe nicht wegen der Doppelkanne Wein und den zwei Broten. Sein Geist lauerte lange auf Gelegenheit, seine Erben an die Wiedererstattung des sich selbst Angeeigneten mahnen zu können. — Da geschah es, dass eines Abends bei angebrochener Nacht ein Mann bei den Mühlen im Bach das Wässerwasser schöpfte und auf dem Wasserleitenborte mitgehend, hinaus in die Güter führen wollte. Er hatte die Mühlen kaum passiert, als er drunten in der Strasse einen Unbekannten bemerkte, der ihm vorauseilte. Wo Strasse und Wasserleite sich kreuzen, stand der Fremde still und forderte den langsamer ankommenden Wasserführer auf, er solle warten und ihn anhören. Dieser, etwas erschrocken durch das unbekannte Wesen des Fremden, weigerte sich dessen, weil er dem Wasser folgen müsse, um im nahen Ackerland nicht etwa Schaden zu machen; er hielt nicht an und eilte mit dem Wasser fort. Auch der Fremde ging traurig seine Strasse weiter und kehrte, beim Backhaus vorüber, ins Dorf ein. — Unter dem Dorfe Törbel, in den Hofmatten kreuzen sich Strasse und Wasserfuhr wieder und auch der Fremde stand da, der nun drohend zum langsam Ankommenden sprach: «Hier in den Matten macht dein Wasser nicht mehr Schaden; hörst du mich auch hier nicht an, so tue ich dir wie dem Pfarrer Tammatter.» — Dieser Pfarrer soll's verweigert haben, den Unbekannten anzuhören, unter Vorgabe, als Pfarrer sei er in seiner Pfarrei selbst Meister und lasse sich von Niemanden Aufträge oder Befehle geben. Der Abgewiesene schied tief betrübt; verdeutete ihm aber, er werde ihn bei nächster Gelegenheit ausser den Grenzen seiner Pfarrei schon treffen. — Wirklich starb dieser Pfarrer im Pfarrhause zu Visp, wo er übernachten wollte, um an der "Kreuzmittwoche" mit seinen Pfarrkindern die Prozession nach Glis mitzumachen. Er legte sich abends gesund ins Bett und ward am Morgen tot gefunden. — Die Totenregister von Visp führen seinen unerwarteten Tod an.
Unser vor Angst zitternder Wasserführer musste also stehen und in langer Rede hören, der Fremde sei der Geist des verstorbenen Gewaltshaber Müller, der in seinem Leben eine Doppelkanne Wein und zwei Brote sich verborgen angeeignet habe. Um zur Ruhe zu kommen, solle nun sein Sohn, der Erbe, jedem Gemeinder eine Doppelkanne Wein und zwei Brote geben, weil er als Gewaltshaber sich selbst auch so viel zugeteilt habe; es gehöre jedem eben so viel als er selbst empfangen.
Dieser Auftrag wurde dem Sohne zwar kund getan, doch von demselben nicht erfüllt, weil er meinte, es sei wohl genug, den sich zugeteilten Werth einfach der Gemeinde zurückzustellen, was er auch in vollem Masse gleich tat. — Bald darauf, als eines Abends der Sohn mit seinen Hausleuten ruhig den gewohnten Abendsitzarbeiten oblag, fing es an der Haustüre heftig zu pochen an. Der Vater erschrak und getraute sich nicht zur Stubentüre hinaus. Er sandte sein sechsjähriges Töchterlein, um nachzusehen, wer da wäre. Dasselbe kam eilig zurück: «Ach Vater!» schrie es, «unser Grossvater, der gestorben, will ins Haus und mit dir reden!» — «Geh' schnell», befahl der Vater, «und sag ihm, er solle ruhig sein; die Sache werde geordnet werden!» — Gleich am folgenden Morgen kam das Korn in den Bach zum Müller und bald als Mehl zurück ins Backhaus, um den sonderbaren Auftrag pünktlich zu erfüllen.
Und von der Zeit an pochte der Gewaltshaber Müller auch nicht mehr an der Türe, obschon das Haus noch steht und in Törbel im obern Dorfe zu sehen ist.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch