Noch vor wenig Jahren traf ein Mann aus den Mörjerbergen in der Nacht beim Nussbaum, einem Gütchen zwischen Mörel und der Nussbaumbrücke, einen Fremden an der Strasse stehen. Immer freundlich und wohlgelaunt ging er auf ihn zu und sagte:
«Guter Freund! Wem wartest du?» Traurig antwortete der Angeredete: «Eben dir lieber Freund! Ich kenne dich und habe Zutrauen zu dir; denn wisse, ich bin kein Lebendiger, aber der Geist eines Verstorbenen.» Eiskalter Schauer überfiel unsern gutmütigen Frager; — doch blieb er stehen und hörte den stillseufzenden Toten mitleidig an. — Dieser fuhr fort zu erzählen, wie er im Leben ein fremder Viehhändler gewesen, der eben an dieser Stelle sein Vieh oft habe laufen und weiden lassen. Er glaubte damit nicht grob gefehlt zu haben; doch könne er nicht erlöst werden, so lange dafür nicht genug getan werde. Er wende sich da an ihn und bitte, ihm zu helfen. Zwar sollten das seine Erben tun; aber es nütze nichts, diesen etwas zu sagen, weil sie es nicht glauben und nicht erfüllen, darum nur ihr Gewissen belasten würden. Er solle darum denselben nichts kund tun, sondern aus eigener Liebe helfen, die er ihm zu vergelten trachten werde; ihm fehlen zur Erlösung ein Almosen und ein paar Hl. Messen. Mitleidig und gerührt versprach der Lebende zu helfen und der Tote verschwand.
In kurzer Zeit war das Almosen verteilt und die Hl. Messen las der noch lebende Kaplan Schlunz in Glis. — Eines Abends kehrte unser Bauer erst spät in der Nacht heim. Als er zu seiner Hausstiege kam, sah er zuoberst auf derselben jemanden stehen. Nichts ausserordentliches vermachend rief er in seiner gewohnten guten Laune hinauf: «Wart! Jetzt ertappe ich dich grad recht; du scheinst in meiner Abwesenheit mein Haus überrumpeln zu wollen.» Er eilte hinauf und erkannte — diesmal nicht mit Schrecken, aber mit einiger Zufriedenheit — seinen toten Viehhändler wieder. Dieser erklärte dankend, ihm sei geholfen und er habe ihm den Liebesdienst bereits vergolten, indem er ihn unlängst bei gefährlicher Holzarbeit im Walde vor schwerem Unglück geschützt habe. Er werde auch in Zukunft ihm dankbar sich erweisen. Der hocherfreute Bauer lud seinen toten Freund ein, wenn er Zeit hätte und es ihm erlaubt sei, ins Haus hinein zu kommen, um länger mit einander zu plaudern: «Meine Hausleute schlafen», meinte er, «und sie würden wohl nicht gestört werden.» Der Tote folgte und in langer Rede ermunterte er seinen Wohltäter, gerecht und fromm seine Tage hienieden zu verleben. — Dann aber nahm er Abschied für immer.
(erzählt von Pfarrer Escher)
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch