Im Hegdorn, Natersberge, lebte einst, so wird erzählt, eine Hexe, die mit einem braven Manne verheiratet war. Ihr Haus stand gerade in der Grenzlinie zwischen der Kompart (Gemeinde) Naters und Rischinon. Vor alter Zeit war der Berg Naters in Verwaltungssachen und in Benützung der Wälder und Weidgänge in zwei Komparten geteilt. Die Hexe konnte sich darum in der gleichen Stube auf beliebiges Territorium hinstellen, was den Behörden Unbeliebigkeiten verursachte.
Zu Zeiten wohnte die Hexe auch in Aletsch. Sie pflegte vertrautere Bekanntschaft mit einem Stridel, der in Brigisch zu Hause war. Wenn sich nun diese Verliebten Besuche machen wollten, so nahmen sie die Gestalt von schwarzen Raben an und flogen so zusammen. Diese Raben sah man darum oft auf- und abfliegen, wie noch in heutigen Tagen, nur mit dem Unterschiede, dass damals solche Raben Hexen und Stridel waren, jetzt aber nur noch gewöhnliche Vögel.
Unsere Hexe hasste unter solchen Umständen ihren frommen Mann sehr; konnte ihm aber nie etwas Leides zufügen. Da geschah es, dass die Hexe in Aletsch sich Suppe kochen wollte. Sie setzte Pfanne und Butter aufs Feuer und erinnerte sich, eben, dass sie noch keinen Knoblauch zur Hand hätte. Schnell eilte sie nach Naters hinab, und holte sich das nötige Kraut in einem Garten. Als sie auf der Rückreise nach Blatten kam, sah sie ihren verhassten Mann eben auf einem Baume schwarze Kirschen lesen. Als Rabe flog sie gleich auf die Spitze des Kirschbaumes und sandte ihrem aufblickenden Manne — er hatte zum Unglück eben unterlassen zu Mittag den englischen Gruss zu beten — Kot in die Augen herab, dass er blind vom Baume stürzte und starb. Die Hexe aber ging nach Aletsch zurück und kochte ihre Suppe ruhig fort.
Da ging dann doch der wohlweisen Obrigkeit die Geduld aus. Die Hexe wurde eingefangen und angeklagt wegen des häufigen Rabenfluges und des Mordes an ihrem Manne in Blatten, während sie in Aletsch Suppe kochte. Vermutlich hat sie auf der Folter alle diese Verbrechen eingestanden, denn der Richter verurteilte sie nach damaligem Strafrechte zum Scheiterhaufen. Die Sünderin wurde im Hegdorn verbrannt, wo man die Richtstätte noch jetzt "Hagsch-Schädji" heisst.
Arme Hexe; wenn du wirklich eine wärest und das leisten konntest, weswegen man dich verbrannte, warum stiegst du nicht wieder als Rabe auf und spottetest der Weisheit damaliger Gerechtigkeitspflege?
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch