Die Burgschaft Visp — Vispach — Fischbach, wird in der alten und neuern Geschichte des Wallis oft erwähnt und behauptet darin eine nicht unbedeutende Stelle, bald durch männliche Freiheitskämpfe, abgehaltene Landräte und getroffene Übereinkommen, bald aber durch Rang und Adel einflussreicher Familien und Herrschaften, die daselbst, besonders in der Hübschburg ob Visp, ihren Sitz hatten. Die mächtigen Anschwellungen der Vispe haben den Boden, auf dem die untere Burgschaft gebaut ist, sehr bedeutend gehoben. Das Wirtshaus "Überbühl", jetzt im Wasser, stand einst auf einer Anhöhe, wie schon der Name sagt, und die Vispe, die jetzt durch eine hohe Sandebene dahinfliesst, hatte ihr tiefes Bett in fetten Wiesen, wo die Nussbäume der beidseitigen Ufer ihre Äste so nahe brachten, dass die muntern Eichhörnchen bei der Nachlese selbe als bequeme Brücken benutzten, den Fluss spielend zu übersetzen. Die tiefen Keller der untern Burgschaft zeigen darum noch jetzt das Holzgetäfel der alten Wohnzimmer.
Als der "ewige Jude", so wird erzählt, einmal in Visp bei einer armen Witwe einkehrte und nach genommenem Nachtmahle den Tisch auf die Mitte des Zimmers schob, um, weil er nicht ruhig bleiben darf, die ganze Nacht um denselben herumzulaufen, sagte er am Morgen beim Weitergehen seiner Wirtin, als er das erste Mal da vorübergekommen sei, habe der Ort "Schönbach" geheissen, jetzt sage man "Fischbach", und wenn er nochmals komme, so werde man ihn "Leidbach" nennen. — Beim schauerlichen Erdbeben 1855, wo die Bewohner drei Wochen lang unter freiem Himmel wohnten, und noch mehr beim gewaltigen Dammbruche der Vispe 1868, hätte dieser Name mit Fug und Recht können gebraucht werden.
Noch in letzter Zeit wollte man in Vispach drei kleine "Weltwunder" finden; ein Zimmer mit Fenstern in die vier Weltgegenden, ein Haus mit der Türe am Giebel und einen Turm ohne Dach. — Jetzt hat das Erdbeben dem Turm provisorische Bretter aufgesetzt; der Dachgiebel, durch den man so gemütlich zum "guten Roten" herabstieg, ist zugemauert, und wie es mit dem Zimmer stehe, in dem die am Himmel stehende Sonne immer Fenster zum Einguggen hatte, weiss ich eben nicht anzugeben. Diesen drei Weltwundern hat allerdings den schlimmsten Streich das Erdbeben gespielt; die schöne Steinbogenkrone des hohen, auf einem Felsenvorsprunge gebauten Turms fiel ein und das so kühn in schwindelnder Höhe getragene Eisenkreuz stürzte einschlagend in das Dach des alten zusammenfallenden Pfarrhofes. — So wie die Jungfrauen am Fronleichnamstage das Tragen bunter Glasperlenkränzlein nicht mehr in Mode finden, ebenso wenig ist zu erwarten, dass der einst so schöne Martinsturm die kühnen Säulen, Bögen und Kronen als Dach wieder erhalten werde.
Aus der Zeit, wo dieser Turm gebaut wurde, wird noch erzählt, dass der Baumeister nicht den Mut hatte, das schwere Eisenkreuz über die hohen Gerüste und Leitern hinauf zu tragen und in das wohl bereitete Loch zu setzen. Da unternahm einer der Knechte das Wagestück. Als dieser mühsam die Spitze erreichte, schrie er herab: «Aber Meister! In welches der drei Löcher soll ich das Kreuz stecken?» — Der Schwindel machte ihn dreifach sehen. — Unwillig antwortete der Meister: «Dummkopf! Ins mittelste!» Er tat's und das Kreuz hielt fest. Aber der Unglückliche flog im gleichen Augenblicke in schauerlichem Falle hinab und hinaus tot auf's Vispensand.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch