Oft gibt es Eltern, die mit ihren Kindern, wenn diese heiraten wollen, nicht einig gehen. Der Vater und die Mutter haben freilich mehr Erfahrung und blicken die Dinge kaltblütiger an; ihre Räte sollten darum von den Kindern nicht zu leichtfertig übersehen werden. Doch kann es auch Fälle geben, wo die Eltern zu parteiisch sind und die Sache zu weit treiben.
Aus dem vorigen Jahrhunderte wird erzählt, dass ein Vater um das Heiraten seines Sohnes, der mit seinen Wünschen nicht übereinstimmte, sich gar sehr bekümmerte. In blindem Eifer sprach er oft, er wolle lieber seinen Sohn unter seinen Augen totfallen, als mit einer ihm nicht beliebigen Person heiraten sehen.
Eines Tages sollte dieser Sohn seinem Vater in Felsklippen gefangene Ziegen befreien helfen. — In felsigen Weidgängen gibt es oft Stellen, wo Schafe oder Ziegen sich so versteigen, dass sie sich selbst zu retten nicht mehr im Stande sind. Am gefährlichsten sind begraste Felsenvorsprünge, in die das grassuchende Vieh hinabsteigt, aber wieder hinaufzuspringen die Kraft nicht hat. Um selbes aus solch selbstverschuldeter Gefangenschaft zu befreien, wagt sich der Mensch nicht selten in grosse Gefahr. An einem langen Seile wird gewöhnlich ein Hirtenknabe über hohe Felsen hinabgelassen, welcher dann zuerst das verstellte Vieh und zuletzt sich selbst an den Strick heftet, um so der Reihe nach wieder hinaufgezogen zu werden.
Und der heiratsgrame Vater sah, wie er es oft gewünscht, unter seinen Augen den unglücklichen Sohn in schauerliche Abgründe totfallen! — Das geschah am Gallenberge in Herbriggen den 13. Heumonat 1714.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch