Zu Brunnen, einem Bergweilerlein am südlichen Ufer des Triftbaches im Tale Saas, wohnte, laut der Sage, in einem Hause eine Mutter allein mit ihrem kleinen Töchterlein. Die Mutter pflegte fast jeden Abend auszugehen, um sich bei Nachbarn lang in die Nacht hinaus in muntern Abendsitzen zu belustigen. Das Kind nahm sie nie mit; legte selbes zu Bett und schloss es im Hause ein. Die so verlassene Kleine klagte der Mutter oft, wie sie doch immer fortgehen, so lange ausbleiben und sie so mutterseelenallein lassen möge? Es sei im Hause so unheimlich und es fürchte sich immer so sehr! — Das half nichts; die Abendsitze wurden nur desto länger. — Bald fing das Kind an, mit weinender Stimme zu bitten: «Mutter bleibe doch bei mir und lass mich nicht allein! Es kommt ein böser Mann ins Haus, der will mich forttragen!» Die Mutter hörte nicht. Folgenden Abends, als das arme Kind merkte, die Mutter wolle wieder fort, fing es bitterlich zu weinen an:
«Mutter», jammerte es, «wenn du doch nicht bleiben und mich so allein lassen willst, so gib mir doch Weihwasser und segne mich, damit wenigstens Gott und mein Schutzengel mich bewahren!» — Aber laut lachte die lieblose Mutter und, sich entfernend, schlug sie die Türe hinter sich zu. — Leider! blieb die Strafe diesmal nicht aus; die unbarmherzige Mutter fand ihr Kind nicht mehr; das Haus war leer. — Nach langem Suchen fand sie endlich im nahen Kinn, das der Triftbach sich gegraben, nur noch das leere Schühlein, so das Kind am linken Fusse getragen.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch