Das vollzogene Todesurteil

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Zu ehemaligen Zeiten waren der Richter über Leben und Tod sehr viele. Jeder Oberherr hatte das Recht, über Vergehen, die im Bezirke seiner Jurisdiktion begangen wurden, die Todesstrafe auszusprechen. Solche Kreise oder Jurisdiktionsbezirke hiessen "Freigerichte". Der Richter erbte damals von den zum Tode Verurteilten den dritten Teil ihres Vermögens. — Ein anderer Drittel fiel der Gemeinde zu und nur ein Drittel kam auf die gewöhnlichen Erben. — Darum gab es wohl der unzuverlässigen Urteile viele, von denen noch einige im Munde des Volkes fortleben.

Ein Mann in Täsch, zer Metjen, Peter Joseph Schallbetter mit Namen, der 1752 heiratete und 1754 eine Tochter zeugte, wurde angeklagt, er habe über das Wetter und die Obrigkeit geflucht. Ein erschwerender Umstand war allerdings, dass er reich war und viele Kühe im Stalle hatte. Er wurde des Schwörens wegen zum Tode verurteilt. Es musste ihm jedoch eine Gnadenfrist eingeräumt werden, weil er sich an den Bischof von Sitten, Präfekten über Wallis, wandte. Der edle Oberhirt begnadigte ihn. Das konnten die Richter voraussehen, war ihnen aber wegen der reichen Erbschaft nicht gelegen; darum bestellten sie im Verborgenen Leute, die den Boten im Kipferwalde, wenn nötig, bis auf anberaumte Zeit aufhalten sollten, und ordneten die Hinrichtung des Verurteilten genau auf die Minute an, die laut Gesetz musste eingehalten werden. Als der Bote in möglichster Eile ankam, sah er schon von Ferne den Richtplatz voll Menschen. Er fürchtete zu spät zu kommen, schwang darum ein weisses Sacktuch hoch in der Luft und schrie so laut er vermochte: «Gnade! Gnade!» Aber es war zu spät; Schallbetters Haupt lag eben in den letzten Zuckungen auf dem Boden, als die Gnadenbotschaft zur Richtstätte gelangte.

Die Richtstätte war auf der Nordseite des Dorfes St. Niklaus, zwischen Gerstern und dem Esch an der Talstrasse gelegen. Es blieb unter dem Volke die Sage, das abgeschnittene Haupt des Hingerichteten habe sich auf dem Richtplatze nicht begraben lassen, sondern sei stets auf dem Gottesacker in St. Niklaus gefunden worden. Auch soll derselbe einem Freunde erschienen sein und tröstend gesagt haben, der dritte Richter sei der gnädigste gewesen!

 

Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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