Das frommgläubige Volk legt der Unschuld getaufter Kinder hohen Wert bei und traut derselben wohl überirdische Kraft zu. — Der Satan und böse Geister vermögen nichts gegen dieselbe; Bozen und Spukgeister sind kaum zu fürchten, wo ein Kind in der Unschuld Gesellschaft tut. — Betrüger, die diesen Volksglauben kennen, verlangen oft unschuldiger Kinder Hände, um einen versprochenen Schatz zu entdecken oder anderes Blendwerk zu verüben. — Die Mutter glaubt viel kräftiger und wolkendurchdringender beten zu können, wenn sie ein unschuldiges Kind auf den Armen hält, das sich ihr anschmiegt und ihren Hals umklammert. Auch gibt es Orte, wo den Sterbenden ein unschuldiges Kind möglichst nahe gebracht wird, das den bösen Feind verscheuchen und die ausgehauchte Seele in der Unschuld in Empfang nehmen soll. — Unschuldige Kinder werden darum beim Volke überall gerne gesehen und wohl geduldet.
Diese Schätzung und Achtung vor der Unschuld getaufter Kinder erreicht aber beim gläubigen Volke den Höhepunkt, wenn eines derselben das Glück hat, in derselben zu sterben. In mancher Sage beurkundet sich der Volksglaube, die unschuldigen Kinder gehen nicht allein in den Himmel, sondern würden von einer andern, aus den Reinigungsqualen dafür erlösten, armen Seele dahin begleitet. Der Tod eines unschuldigen Kindes, so wird geglaubt, befreit also allemal, wenn möglich unter den Anverwandten, eine leidende Seele aus den Peinen des Fegfeuers; gilt darum als ein glückliches Ereignis für die ganze Familie, das oft in heissen Gebeten vom Himmel verlangt wird. Der gute Vater und die zärtliche Mutter weinen freilich dem lieben Kinde ein Paar stille Tränen nach; aber das freudige Bewusstsein, einen schönen Engel im Himmel zu haben, der für sie am Throne des Allmächtigen betet, trocknet diese Tränen gleich und stimmt alle Traurigkeit in Freude um. Der Begrabtag des Kindes wird ein Freudenfest für die ganze Familie; Eltern und Anverwandte ziehen ihre Hochzeitskleider an, begleiten so die Leiche zu Grabe und feiern im trauten Kreise den glücklichen Tag. — Auch die Kirche kennt keine Trauer und begleitet unter Lobgesängen die Leichen unschuldiger Kinder zur geweihten Erde.
O! wie sehr sticht da die glaubensarme Mode der Städte und Grunddörfer ab, wo der feine Ton fordert, auch die Leichen unschuldiger Kinder in Trauer und unter Wehklagen zur letzten Ruhestätte zu bringen!
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch