Der seltsame Kuhmelker

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Wer von Stalden aus durch einen übelbesorgten Fussweg nach Esch in Zeneggen geht, findet ob dem Dörflein "zer neuen Brücke" mitten in nachlässig ausgereutetem Gebüsch, am Saume eines lichten Wäldchens, an der Strasse eine nicht gar wohlgehaltene Scheuer und Stall, in welchem, so wird erzählt, einmal eine gute Milchkuh eingeheimst und gefüttert wurde. Lange ging das Ding gut und seinen gewöhnlichen Gang. Bald fing man aber an mit Verdruss zu gewahren, dass die Kuh jeden Morgen weniger Milch habe, als billig zu erwarten war. Erst meinte man, die Kuh wolle krank werden und verliere darum die Milch. Diese zeigte sich aber stets munter und wohlauf. Dann glaubte man, während der Nacht müssten Diebe kommen und die Kuh melken; darum begann man den Stall sorgfältiger zu verschliessen. Umsonst, kein Hälmchen wurde an der Stalltüre verrückt, und die Kuh verlor doch immer ihre Milch.

Endlich wollte der Hausvater in eigener Person dem Milchdieb aufpassen und entschloss sich darum im Stalle verborgen zu übernachten. — Die Nacht verstrich ruhig. Vor Tagesanbruch jedoch, ungefähr eine Stunde vor der gewöhnlichen Fütterungszeit, stand die Kuh auf und begann zu "trieschen" oder "trintschen" — (Stimme der Kuh, die ihrem Kalb ruft). Und sieh! In einem Loche der alten Stallmauer wurde es lebendig; eine grosse Schlange kroch hervor, über die Mauer herab und zur rufenden Kuh heran, unter der sie auf dem Boden einen Ring bildete und den Kopf so weit in die Höhe richtete, um bequem zum vollen Euter langen zu können. Aus allen vier Dillen oder Milchstrichen sog sie die Milch gemütlich und sichtlich vergnügt heraus.

Der entsetzte Lauscher getraute sich nicht, den grausen Milchdieb anzugreifen, liess ihn ruhig gewähren und ins verborgene Quartier zurückschleichen. — Folgenden Morgens aber, mit nötiger Hülfe verstärkt, erlegte er die zur Gegenwehr sich hochauftürmende Schlange noch ehe sie ihren gewohnten Schelmenstreich wieder beginnen konnte. — Die Kuh aber fing an, sichtbar zu trauern und zu darben, und es währte lang, bis sie ihren nächtlichen Melker wieder vergessen zu haben schien.

 

Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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