In einer christlichen Gemeinde gibt es kaum ein angenehmeres und unentbehrlicheres Möbel, als schöne und harmonische Turm-Glocken. Diese sind es, die mit uns Freud und Leid, Hoffnung und Angst, Lobgesang und Trauerklage, Wonne und Schrecken in vollem Masse teilen; sie sind es, die den Schöpfer loben, uns zum Gebete rufen, die Stunden zählen, uns vor Gefahren warnen, mit uns frohlocken und beim Tode lieber Verstorbenen herzlich mit uns weinen. Mit einer und derselben Stimme spricht die Glocke eben das in unser Herz hinein, was schon da ist, und trifft und reisst unsere Gefühle so unwiderstehlich dahin, mit vollem Rechte finden wir darum auf mancher Glocke die Verse eingegossen: Convoco, Laudo, Voco, Depello, Nuntio, Ploro, Arma, Deum, Vivos, Nubila, Laeta, Rogos. Wer mag sich darum wundern, dass jeder gefühlvolle Mensch die Turm-Glocken so sehr liebt? Dass Arm und Reich zum Glocken-Guss bereitwillig beisteuern und die ganze Gemeinde tief trauert, wenn eine Glocke zerspringt?
In St. Niklaus wird erzählt: Joseph Riedi lebte alt und blind in Zerschwidern, St. Niklaus, und versprach tausend Pfund, wenn man eine Glocke giessen lasse, die er noch hören könne. — Eines Tages lud man ihn ein, ein wenig im Freien die liebe Sonne zu geniessen. Er folgte. Und siehe da! Auf einmal tönte von St. Niklaus her lieblicher Glockenklang an sein Ohr. Des Alten Augen füllten sich mit Freudentränen; er erhob sich und sprach: «Ihr habt Wort gehalten, ich will zahlen!» — «Das wussten wir schon», war die Antwort, «darum steht auch dein Name auf der Glocke schon eingegossen».
Wie ist es nun möglich, dass die altehrwürdige Kirche auf Valeriens Hügel so lange der schönen Glocken entbehren kann, die Jahrhunderte lang Ohren und Herzen des christlichen Volkes erfreuten?
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch