Einem bösen Stiere auf freiem Felde begegnen ist kein Spass; da hilft weder sich postieren noch Fersengeld zahlen. Ebenso unheimlich ist's auf Hochalpen für Menschen und Vieh, wenn da etwa der Bär auf seiner Rundreise eintrifft. Was jener niederstösst und mit seinen Hörnern anspiesst, das zerfleischt und zerreisst dieser mit seinen gewaltig einschlagenden Hacken. Was würde es aber absetzen, wenn zwei solche Gegner einander an die Haut geraten sollten? — Das erzählt eine Sage:
Auf der Hanigalp ob Grächen, wo ein trotziger Stier mit der Herde herumgraste, hielt ein Bär seine Umschau. Mit Entsetzen liefen Hirten und Vieh davon; nur der Stier war dess nicht gewohnt. Schnurrend senkte er gleich sein Haupt und schob die siegesgewohnten Hörner voran, gemessen und kraftvoll auf den Feind zuschreitend. Aber auch der Bär nahm's ernst und der Zusammenstoss liess nicht auf sich warten. Kämpfend verloren sich die Gegner bald im nahen Walde und die erschrockenen Hirten hatten den Mut nicht, ihnen zu folgen.
Folgenden Tags fand man beide als Leichen. An einer Felsenwand hatte der Stier den Bären zu Tod erdrückt; weil aber die Leiche desselben, bei jedem Loslassen des Stier's immer in dessen Hörner zurück sich neigte, glaubte dieser den Feind noch immer lebendig: stiess darum mit voller Kraft so lange an, bis auch er vor Wut und Entkräftung den Geist aufgab.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch