Die Heuschrecken auf dem Gletscher

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Was die Plage der Heuschrecken sei, oder vielmehr, was diese winzigen Tiere für Schaden anrichten können, weiss man nun im Oberwallis, besonders in der Gegend von Visp, leider aus Erfahrung. Vor dem Jahre 1838 schüttelte mancher ungläubig den Kopf, wenn von den Verheerungen der Heuschrecken, in der Volkssprache "Straffeln", die Rede gewesen.

Die grosse Rhoneüberschwemmung vom Jahre 1834 scheint den Boden des Vispergrundes zur Niederlage, Erhaltung und Ausbrütung der Heuschrecken-Eier wohl geeignet gemacht und entsprechende Witterung das ihrige nicht versäumt zu haben, denn nach drei Wintern entstiegen die jungen Heuschrecken dem Boden wie Ameisen ihren gestörten Nestern. Die Leute erschraken nicht, sondern spotteten gutmütig des "lebendig gewordenen" Bodens auf den dürren Sandufern der Rhone. Als aber diese "hüpfenden Flöhe" täglich grösser wurden, immer weiter und weiter nach Nahrung haschten und in schnell erweiterten Umkreisen alles Grün bis zur schwarzen Erde wegschnappten, da gingen den guten Landanbauern die Augen auf und erkannten mit Schrecken die Gefahr für ihre fruchttragenden Wiesen und Äcker. Man befahl nun freilich die Straffel fischelweise im Tau einzufangen und zu vernichten, aber es war zu spät; verloren war alles, was der Schnitter nicht in der Eile ihrem zernagenden Zahne noch entzog. Nach vollendeter Verwüstung erhoben sich diese Tiere massenhaft in die Luft und zogen in dichten Wolken, welche die Sonne verfinsterten, landaufwärts in die Getreidefelder von Gamsen und Glis. Die Leute, die diese hungrigen Einwanderer aus Sagen von Visp bereits kannten, wollten ihre besseren Felder und Äcker gegen diese ungeladenen Anstürmer mit Waffen schützen, d.h. hielten die Feinde mit langen Ruten und Wasserpumpen in geziemender Ferne. Sie kämpften eine Zeit lang nicht ohne Erfolg; doch genügte ein unbewachter Augenblick und der erwachende oder zurückkehrende Verteidiger fand sein schönes Weizenfeld schwarz mit Heuschrecken besetzt, welche die Halme unter der unreifen Ähre durchbissen und diese schonungslos zu Boden stürzen machten.

Aus dem Saastale erzählt eine alte Sage, — freilich lange ungläubigen Ohren — es habe da einmal eine fürchterliche Menge Straffel gegeben, die alles Grün in Matten, Feldern und Äckern wegfrassen. Hatte jemand die Unvorsichtigkeit seinen Rücktschiffer mit Lederriemen (Bretschellen) oder etwa gar seine Lederschuhe auf dem Felde stehen zu lassen, so seien diese Ledergegenstände von den Strafflen rein zernagt worden. — Die geplagten Leute nahmen damals, wie das letzthin auch nicht unterlassen wurde, ihre Zuflucht zum Gebete. In grosser andächtiger Prozession zog alles Volk zur Hl. Anna in der Alpenkapelle im "Lerch" beim Allaleingletscher und — die Plage hörte auf; alles Ungeziefer folgte dem frommen Pilgerzuge zum genannten Gletscher, warf sich auf denselben und erfror. Zum Andenken setzte die Pfarrei Saas diese St. Anna-Prozession bis auf die neuesten Zeiten gläubig fort.

Auch die Heuschrecken von 1838 verloren sich nach durchlebter Periodezeit fast plötzlich und Tatsache ist es, dass Leichen verendeter Heuschrecken auf hohen Gebirgsgletschern gefunden wurden.

 

Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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