Vor alten Zeiten gehörten die Murmeltiere in den Saaseralpen den Grafen Blandrati in Visp, welche dieselbe nicht als Staatsbehörden, wohl aber als Alpeigentümer besassen. Die Alpweiden wurden den Leuten von Saas in Pacht gegeben, nicht aber die Murmeltiere, welche sie sich vorbehielten.
Später — 1300 — kaufte die Gemeinde Saas die Alpen mit allem Zubehör und von der Zeit an glaubte diese, auch die Murmeltiere als gekauftes Eigentum zu besitzen und hatte davon den fortwährenden und ungestörten Genuss und Gebrauch. Die Landesregierungen anerkannten den vier Gemeinden von Saas ihre althergebrachten Rechte; selbst die französische Regierung tat noch in diesem Jahrhunderte des Gleichen. — Da pfiffen und grasten die muntern Murmeltiere furchtlos und lustig in den Hochalpen des Saastales, denn die Gemeinden behandelten sie stets mit zarter Vatersorge.
Nie wendet man Pulver und Blei an, um diese lieben Tiere nicht zu schrecken und von den fetten Weideplätzen zu verscheuchen; man sieht sie darum oft mitten unter Schafen
und Ziegen lustig im Grase spielen. Noch weniger duldet man das Aufgraben der Winterlager, weil dadurch ganze Familien vernichtet werden. Nur auf Ständern (Wintersitzen), die man wohl bevölkert merkt, richtet man im Herbst Steinfallen, wo die Jungen durchschlüpfen können, die grösseren Tiere aber gefangen bleiben. Sobald es aber die Erhaltung der Familie zu erheischen scheint, lässt man alle frei ins Winterquartier einlaufen. Die Gemeinden lösen so jährlich hübsche Summen Geldes und besitzen auf den Murmeltieren ein schönes Kapital.
Vor ungefähr 60 Jahren starben in der "Gletscheralpe" in Fee alle Murmeltiere aus, entweder durch ungünstige Witterungszufälle oder durch Krankheiten. — Drei Leute erzählen freilich, ein Landstreicher aus Italien habe im Geheimen und mit einer Lockspeise diese Tiere alle, gross und klein, wegzufangen verstanden. — Auf gewöhnlichen Wegen konnte diese, von Gletschern ganz umschlossene Alpe nicht mehr mit Murmeltieren bevölkert werden. Darum grub ein besorgter Murmeltiervater, Johann Baptist Ruppen, der im Frühjahr oft, wenn der Schnee zu langsam schmolz, seine lieben Pflegebefohlenen mit mühsam auf seinem Rücken hingetragenem Futter fütterte, in einem andern Berge ein junges Paar Murmeltiere auf, überwinterte die schlafenden Jungen in einem frischen Keller und brachte sie im Frühjahr in die leere Alpe, wo er sie, mit Futter wohl versehen, in eine ausgestorbene Höhle einführte. Und das Ding gedieh vortrefflich; nach wenig Jahren pfiffen die Murmeltiere wieder munter und tanzten zahlreich in der Alpe herum.
Als vor dreissig Jahren im Wallis in der Gesetzgebung alles neu wurde, erschienen in Saas rohe Burschen, fast wie Landstreicher, die mit einem Papierfetzen, — Jägerpatent geheissen — gross taten und mit Pulver und Blei die harmlosen Murmeltierherden kühn und grausam überfielen. Da knallten die Büchsen, zischten die Ballen, pfiffen die erschrockenen Tiere grell und jammerten die Leute laut auf. Die hohe Regierung selbst liess sich zum Mitleiden und Erbarmen für die so grausam verfolgten Murmeltiere stimmen und traute sie wieder der väterlichen Fürsorge der Talgemeinden an. — Noch in letzter Zeit kamen feindliche Überfälle wieder vor und die Gemeinden erneuerten ihre Klagen. Mit welchem Erfolg, weiss der Schreiber nicht anzugeben.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch