Die drei Drachen in Saas

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Der Drache — fliegende Schlange, haust nach dem Volksglauben in schroffen und unzugänglichen Gebirgen unsichtbar; — natürlich weiss keiner zu erzählen, je einen gesehen zu haben. (Letzter Jahre will man zwar einen solchen in der Gegend von Mörel gesehen haben.) Dieses Ungeheuer zernagt und zerfrisst die Goldadern der Berge, die dadurch locker werden und zu Tale stürzen. Der Drache ist also ein sehr schädliches Tier. — So glauben die Leute.

Dem Drachen wird auch nachgerühmt, er besitze die Wunderkraft, bei seinen, jedoch seltenen Ausflügen, Menschen und Tiere aus weiter Ferne mit seinem giftigen Anhauchen an sich ziehen zu können. Seine auserkorenen Opfer fliegen ihm lebendig in den grausig offenen Rachen hinein und in den hungrigen Magen hinab. Auch grössere Schlangen sollen kleine Vögel aus der Luft anziehen können. Man will schon armen Vögelchen, die von Ast zu Ast, von Hag zu Hag immer dem Boden sich klagend näherten, das Leben gerettet haben, indem man so glücklich war, eine mit offenem Munde gähnende Schlange auf dem Boden zu entdecken und dieselbe zu verscheuchen.

Im Saastale zeugen Ruinen und im Talgrunde aufgehäufte Felsblöcke, das "Moosguffer" — gleich wie im Zermattertale das "Täschguffer" — unzweifelhaft und sicher von einem grossen Bergsturze aus alter Zeit. — In Saas, so erzählt man, waren es drei grausige Drachen, welche den Berg zerfrassen und zu Tale stürzen machten. Leider wurden die garstigen Bergfresser nicht mit in den Schutt hinabgezogen und erdrückt; alle drei retteten sich glücklich. Der erste dieser fliegenden Drachen zog talhinüber in das nahe Mittaghorn; zwei flogen talauswärts, wovon der eine im Schilthorn bei Balen einkehrte der andere aber die Luftreise nach unbekannter Gegend fortsetzte. Und der Drache im Mittaghorn und der Drache im Schilt leben noch und nagen fort und fort in den Adern dieser Berge; — müssen einst auch zu Tale stürzen. So fürchten die Bewohner der Talebene.

Der Schreiber dieser Sage hat die Bergschründe gesehen, sowohl auf der Blattje im Mittaghorn als auf dem Schilt. Der letztere Bergspalt scheint wirklich Gefahr zu bieten, nur mit fast unwillkürlichem Grausen setzt der Besucher seinen Fuss auf die tief losgerissenen Felsen. Dass die armen Talbewohner nur mit Schrecken an diese Bergstürze, wenn sie wirklich statthaben sollten, denken können, ist selbstverständlich.

Bergstürze sind immer schauderhafte Naturereignisse; spielen darum gern in das Gebiet der Weissagungen hinüber. In Saas ist prophezeit, bei der St. Antoni-Kapelle werde ein Bergrutsch die Vispe so zurückschwellen, dass der Kirchturm in Saas-Dorf im Wasser stehen werde. Kann durch Ablagerungen des Biderbaches leicht geschehen; ja es kann gesagt werden, diese Prophezeiung sei schon in Erfüllung gegangen, weil der gesagte Bach da schon viel Schaden gebracht und das Vispenbett so erhöhte, dass bei grössern Wasseraufläufen die tiefliegende Kirche und der Glockenturm schon manchmal im Wasser standen.

 

Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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