Die Sage erzählt uns Merkwürdiges von der ehemaligen Grösse und alten Macht dieses Gletschers. Über eine Meile soll er ehemals tiefer in das Tal herabgestiegen sein; ja wenn man von der Höhe die überall sichtbaren Moränen und Gletscherrüfen betrachtet, so kann man sich überzeugen, dass die ehemalige Riesenmässigkeit des Schalbetgletschers keine Übertreibung war. Ja die strengen Gelübde, z. B. das Verbot des Tanzens, ausser an Hochzeiten; das Verbot, um Geld zu spielen; das Verbot, an Sonn- und Feiertagen zu wässern; dass der After-Sant-Jodrutag, wie der heilige Tag solle gefeiert werden; dass aus jedem Haus eine verwahrte Person bis zum Riedgletscher und zurück, nüchtern Prozession gehen solle ect. ect., dass, sage ich, zwei an diesen Gletscher grenzende Bergvölker auf ewige Zeiten zu solchen schweren Versprechen sich verpflichtet haben wegen dem Schaden, welchen das starke Wachsen des Gletschers verursachte, ist ein noch stärkerer Beweis. Die Sage erzählt auch, dass man, um diesem zerstörenden Vordringen Einhalt zu tun, zwei fromme Missionspater berufen habe. Diese sollten durch Exorzismen dem verheerenden Tritte des Ungetüms Halt gebieten, was auch geschehen sei. Es scheint, dass dieser Gletscher gehorsamer war als der Gornergletscher, welcher der geistlichen Gewalt des Hrn. Pfarrers Schulzki, der ihn als Exorzist zurückbannen wollte, nicht gehorchte, sondern ein Jahr darnach so stark vorwärts drang wie niemals vorher, — so erzählen die Leute. — Man zeigt in Schalbetten noch die Stelle, bis wo man ihn zurückgebannt hatte; aber weiter sei es den Gottesmännern nicht möglich gewesen, weil der Gletscher so voll armer Seelen sei, die dort ihre Abbüssung machen müssten, und bei zu starker Verkleinerung zu wenig Raum darin gefunden hätten. Auch sollen Temperkinder oft in diesem Eismeere leidende Seelen gesehen haben, die wegen Wucher, Trunksucht, Hoffart und verborgenem Tanzen dort auf verschiedene Art abbüssen müssten.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch