Die Stunde ist da – aber der Mann noch nicht

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Wer ob dem Grossstein, etwa eine halbe Stunde nordöstlich über Naters hinauf, den waldichten Anhöhen zuwandert, wird, wenn er aus dem Buschwerk heraustritt, nicht wenig überrascht, dass er plötzlich am Rande eines gähnenden Abgrundes sich befindet. Auch den kühnsten Bergsteiger überläuft es eiskalt, wenn er in diese schauervollen Schlünde des Massachins hinunterschaut. Das lauschende Ohr vernimmt hier ein fernes und hohles Getöse, so aus einer furchtbaren Untiefe von einem reissenden Bergstrome herrührt. Die grauschwarzen Felswände, die an manchen Stellen nur in schmalen Zwischenräumen sich trennen und aus einer unheimlichen Tiefe zu einer schwindelnden Höhe emporragen, umkränzen Waldbäume, die zum Teil zitternd über dem Abgrund herüberschwanken und gleichsam wie schweigende Wächter dastehen, um den unvorsichtigen Wanderer vor der drohenden Gefahr zu warnen. In der schwindelnden Tiefe drängen sich die Felsen so eng zusammen, dass es da ganz Nacht wird. Es nimmt uns nur wunder, wie die wilde Massa, welche aus dem Aletschgletscher entspringt, im Sommer ihre brausenden Wogen durch diese Engpässe durchzudrängen vermag. Diese Totenstille des Waldes, die nur zufällig die ferne Axt des Holzhackers oder das Geschrei der hier herumschwärmenden Raben, oder das gellende Pfeifen eines Raubvogels störet, der furchtlos und majestätisch über dem Abgrunde kreiset; diese finstern Untiefen, aus welchen ein kalter Hauch uns anwehet; dieses unterirdische dumpfe Tosen des Gletscherstromes, das an den schroffen Felswänden schaurig wiederhallet — ist für den vorwitzigen Bergwanderer etwas Unheimliches und Grausenerregendes, so dass er baldmöglichst diesen Ort verlässt. Umso mehr, wenn er vernimmt, dass in diesen Höllenschlünden schon mehrere Männer ihren Tod gefunden. Man sieht auf der anderen Seite mit Staunen an den grausigen Felswänden eine wahrhaft kühne und kostspielige Wasserleitung, die wie in der Luft schwebend, aus dem Massachin heraus bis nach Mörelried hinübergeführt wird. Neben den hölzernen Känneln sind nur schmale Balken angelegt, über welche der Wasserleiten-Hüter, oder Vogt, dem ausbleibenden Wasser nachgehen muss, um zu erforschen woran es fehle. In so schwindelnder Höhe, über so schmale Bretter fort zu wandeln, erfordert einen kühnen und verwegenen Burschen, dem es im Kopfe nicht schwindlicht wird.

Von solchen kühnen Männern, die dies gefährliche Amt übernahmen, soll schon mancher in diese grausigen Abgründe gestürzt sein. Der Volksglaube meint, Geister seien schuld an ihrem Tode gewesen. Eine uralte Sage vermutet, dass in diesen schauerlichen Orten eine verführerische Wassernixe oder gar eine Eisjungfrau aus dem Aletschgletscher ihre Wohnung habe und von Zeit zu Zeit auf Männer Jagd mache; und wenn sie des ersten überdrüssig geworden, denselben ohne Skrupel durch die Massa hinunterschicke — und dann wieder einen frischen zu bezaubern, zu fangen und in ihre kalte Umarmung, in das schaurige Brautbett herab zu locken — und herunterzustürzen suche. Vielleicht mögen diese Sagen ihren Ursprung folgender Erzählung zu verdanken haben: Einst soll ein Hirt seine Ziegen in diese Gegend auf die Weide getrieben haben. Da hörte er mit heller Stimme aus dem Massachin rufen: «Die Stunde ist da — aber der Mann noch nicht!» — und dieses bis zum dritten Male. — Da kam plötzlich ein junger Mann mit raschen Schritten über die schwindlichte Wasserleitung daher; — und kaum, dass er sich dem Orte näherte — wo man die Geisterstimme hörte — so fiel er in den schrecklichen Abgrund hinunter — und die Eisjungfrau hätte ihren Mann, dem sie dreimal gerufen — endlich gefunden.

 

Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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