In einer Alpe von Goms soll es oft sehr unheimlich gewesen sein. Plötzlich in der Nacht fing das Vieh an, von seinem Lager aufzuspringen und brüllend nach allen Gegenden sich zu zerstreuen, so dass die Sennenhirten die grösste Mühe hatten, selbes wieder zusammen zu treiben. Einige schrieben es wilden Tieren, andere aber Bozen oder Geistern zu. Als die Hirten einst abermals eine so stürmische Nacht gehabt hatten, schlief der Sennenhirt fern von der Hütte an der Sonne. Da er erwachte, stand ein kleines, eisgraues Männlein mit einem breiten Wetterhut vor ihm. Der Senne, welcher ein barscher und furchtloser Kamerad war, rief ihm trotzig zu: «Was machst du da, du grauer Spitzbube!» Aber im gleichen Augenblicke stürzte das Männlein auf ihn, rieb ihm den Bart und legte seinen Mund auf den seinen; denn es heisst, die Geister oder die Toten können mit den Lebenden nicht reden, es sei denn, dass sie von den Lebenden angesprochen werden und von ihrem Atem schöpfen können. Dann richtete sich das Männlein auf und fing an zu erzählen von seinen Diebstählen, die es an Vieh auf den Alpen begangen, so lange und so lange bis Betenläuten am Morgen. Was es da alles dem Sennen geoffenbaret und was er zu seiner Erlösung tat, blieb Geheimnis. Das unheimliche Wesen soll von der Alpe verschwunden sein; aber dieser Sennenhirt hatte seit jener Unterredung sein Lebtag keine gute Gesundheit mehr.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch