Hoch oben in der Natisser-Alpe, Lusgen genannt, auf der Grenze des Aletschtales, findet man einen stark zerklüfteten Felsen, der zum Teil in grosse Blatten zerspalten ist. Einige von diesen liegen ziemlich eben und horizontal auf, weswegen man diesen Ort «"Z'en- Tischen" genannt hat. Dort soll, laut einer alten Sage, ein grosser Schatz verborgen gewesen sein. Oft solle man, vor untergehender Sonne, auf diesen Blatten aufgehäuftes Silbergeräte schimmern und eine vornehme Frau dabeisitzen gesehen haben; doch niemand wagte es, dieser Erscheinung nahe zu treten. Einst aber ereignete es sich, dass ein armer Hirte bei Sonnenuntergang nahe an diesem Orte vorüberging, da sah er die grauen Blatten Z'en-Tischen mit schneeweissen Tüchern bedeckt, auf welchen es von aufgehäuften Silbergerätschaften hell schimmerte. Zur Seite erblickte er eine vornehme junge Frauensperson in alter Tracht, welche regungslos, wie ein Leichenstein, neben diesen Kostbarkeiten sass. Ihr Haupt war auf einen Arm gestützt und ihr Angesicht verhüllte sie mit einem weissen Tüchlein, so sie in der Hand hielt. Sie winkte ihm mit der andern Hand, näher zu kommen. Obwohl ihn ein unwillkürliches Grauen überfiel, so folgte er doch langsam ihrem Winke. Er war ihr schon so nahe, dass er an ihren Fingern, Hals und Brust zahlreiche Edelsteine, in blauem, bald rotem, bald gelbem Lichte, wie Tautropfen auf Blumen an der Morgensonne blitzen und schimmern sah. Aber wie schöner ihm die Gräfin in ihrer reichen alten Tracht vorkam, wie glänzender die Kostbarkeiten ihm entgegen leuchteten, desto mehr fürchtete ihm; und als er schon so nahe war, dass er die Frage an sie stellen wollte: «Gnädige Gräfin, was ist euer Begehren», da fing sein Herz vor Bangigkeit so heftig zu schlagen an, dass ihm die Worte auf den Rippen erstarben; er wandte sich um und nahm eiligst die Flucht. — Eben ging die Sonne unter — da donnerte und krachte es hinter ihm als wenn ein Berg einstürzte. — So sehr trieb ihn die Furcht, dass er nicht einmal wagte zurückzuschauen. Aber dieser kindischen Furcht folgte auch bald die Reue nach. «Törichter Narr», schlug er sich unmutig an die Stirne, «du hast vor deinem eigenen Glücke die Flucht ergriffen». So machte er sich die bittersten Vorwürfe und brachte eine schlaflose Nacht zu. «Morgen will ich», so sprach er über seine kindische Furcht verdriesslich, «meinen Fehler gut machen.» Wirklich machte er sich auf, malte sich auf seinem Gang dorthin in seiner Phantasie die gehabte Erscheinung im rosigsten Lichte und wie er demütig der edlen Frau abbitten wolle, wegen seiner Flucht und Undankbarkeit, wenn sie ihm wieder zuwinke; kurz, er glaubte schon die Gräfin werde ihn zum Erben ihrer Reichtümer einsetzen. Unter diesem Selbstgespräch neigte sich, wie gestern, die Sonne zum Untergang und er stand schon nahe am Ort, wo er gestern eine so herrliche Erscheinung gehabt hatte. Heute aber war es anders; er sah nur die zerklüfteten grauen Felsen. Umsonst blieb er einige Zeit, wie im Traume versunken unbeweglich stehen, als wartete er, dass die Gräfin mit ihren Reichtümern ihm erscheinen sollte. — Alles um ihn war mäuschenstill. — Immer nur die zerspaltenen grauen Blatten und keine Erscheinung mehr. — Da schwärmte in den warmen Strahlen der untergehenden Sonne plötzlich ein herrlicher Schmetterling um die Felsentrümmer herum und auf ihn zu. Er wollte ihn fangen; schon glaubte er ihn erhascht zu haben. — Da entschlüpfte er ihm aus der Hand, flog gegen die Felsenspalten zu und verschwand zwischen denselben - eben als die Sonne untersank. Es wehte ihn ein warmer Luftzug an und es war ihm, als wenn ihm jemand in die Ohren flüsterte: «Du hieltest das Glück schon in der Hand, warum hast ihm den Rücken zugewandt?» Wie oft versuchte er später noch, seinen Fehler gut zu machen, sich mit der Zürnenden auszusöhnen und ihr kniefällig Abbitte zu tun. Aber der ehemalige Günstling war zu sehr in Ungnade bei der edlen Frau gefallen; — weder Gräfin, noch ihre Schätze konnte er jemals wieder sehen.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch