Die Wunder der Heiligen Nacht

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Im Wallis soll man auch ehemals für eine Wahrheit gehalten haben, dass in der Christnacht, während dem und so lange es zwölf Uhr schlage, alles Vieh die Menschensprache reden könne und wer recht in diesem Augenblicke aufpasse, der könne deutlich vernehmen, was sie, die Tiere, miteinander für ein Gespräch führen. — Mehr solle auch in dieser Mitternachtsstunde, so lange die Glocke beim Zwölf-Uhr-Schlagen ertöne, aus jedem Brunnen statt des Wassers der beste Wein fliessen. Es sei aber sehr gefährlich solchen Wein zu kosten, weil bei einem solchen Wagestück der Böse über den Trinkenden Gewalt habe; darum unterstehe sich selten einer, seinem Vorwitz Genüge zu tun.

Man fürchtete, es könnte dem Wagehals ergehen, wie einem gewissen in Deutschland. Ein Mann nämlich, so erzählt die Sage, welcher in der Heiligen Nacht die Probe machen wollte, ob dieser Volksglaube eine Wahrheit oder Unwahrheit sei, ging um die Mitternachtsstunde in der Hl. Christnacht wirklich mit einem Kameraden zu einem Brunnen. Der andere, welcher ihn begleitete um ihm die Furcht zu verscheuchen, rief dem, welcher die Probe machen wollte, zu: «Fünf Minuten vor zwölf Uhr, wie schmeckt das Wasser?» «Nur wie Wasser», gab er ihm zur Antwort. — Nach kurzer Pause sagte er wieder: «Nur Wasser und abermals nur Wasser!» — Da schlug es zwölf Uhr — die Heilige Mitternachtsstunde — plötzlich rief er — «Jetzt kommt Wein, guter Wein!» Aber zugleich rief eine schwarze Gestalt hinter ihm: «Und du bist mein!» Der Mann am Brunnen verschwand mit der schwarzen Gestalt, ohne dass sein Freund je eine Spur von ihm entdecken konnte. — Ebenso, heisst es, werden um zwölf Uhr der Hl. Christnacht alle verborgenen Schätze in alten Ruinen, Wäldern und Wüsteneien, welche dort von Wucherern und flüchtigen Leuten bei Kriegszeiten sind verborgen worden, offenbar werden, in deren Besitz aber nur ausserordentliche Glückskinder gelangen können.

So erzählt man auch, dass ob Zenschwidern in einem Tschuggen sich in der HI. Nacht ein Schatz offenbare. Man habe nämlich bei hellem Mondschein in dieser Nacht einen halb nackten Menschen ein Kistchen auf einen gewissen Platz tragen gesehen, bei welchem er bis nach zwölf Uhr der Hl. Nacht gewacht habe. Zwei arme Jäger wünschten diesen Schatz zu gewinnen und den Geist, der dabei wachen musste, zu erlösen, wenn's möglich wäre. Sie machten sich also etwas vor Mitternacht am Hl. Abend dahin auf. Bei dem hellen Mondschein erblickten sie in der Ferne schon, auf dem bestimmten Platze das Kistchen und eine halbnackte Person dabei sitzen. Da schlug es auf dem Kirchturm in St. Niklaus zum ersten Mal zwölf Uhr. Sie hatten sich an der Zeit betrogen, eilten was sie konnten und waren schon nahe, da schlug es zum zweiten Male Mitternacht — und Kistchen und Wächter waren schon verschwunden; nur sahen sie noch im frischen Schnee die Fussstapfen von blossen Füssen, die in den Klüften sich verloren hatten.

 

Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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