Die Totenprozession – Gratzug

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Eine allgemeine Sage erhielt sich, besonders in den Bergen und Tälern, bis zu unseren Zeiten im Munde des Walliser Volkes, von der Totenprozession, auch Gratzug und Symphonie öfters genannt. Aus dem reichhaltigen Stoff dieser Erzählungen möge dieses Wenige genügen.

An manchen Orten sah man um zwölf Uhr der Nacht eine Prozession in weissen Kleidern um die Kirche ziehen. Der Seher erkannte manche Personen in diesem Zuge, die noch am Leben waren; in der Ordnung, wie sie dann erschienen, starben selbe in wenigen Jahren. — Man nennt diese auch Doppelgänger und glaubt, wenn sie eine solche Person zur Kirche wandeln sehen, so werde sie bald sterben; gehe sie aber von der Kirche, so werde sie noch lange leben.

An anderen Orten, wenn bei Tag oder Nacht sich ein Erdbeben ereignet, so heisst es, diese Nacht sind die Toten, ist die Totenprozession vorübergezogen.

Diese Totenprozession heisst an gewissen Bergen Gratzug oder Symphonie. Wenn ein solcher Geisterzug vorübergeht, so hört man bald ein dumpfes Murmeln, wie bei einem zahlreichen Bittgang, wo der Rosenkranz gebetet wird. — Bald soll man den langsamen Totenmarsch, oder deutlich den Marsch trommeln und pfeifen hören; bald wieder allerlei Musik, weinende und lachende Stimmen; bald wieder nur ein seltsames Getöse und Rauschen und einen bald kalten, bald warmen Windhauch, — als wenn ein starker Windstoss durch das Laub der Bäume sauste. — Wo nun ein solcher Gratzug seinen gewöhnlichen Gang hat, solle man sich immer ob den Weg stellen oder legen, weil dort die Toten nicht schaden dürfen; wer aber im Weg des Gratzuges bleibe oder unter den Weg sich flüchte oder lege, über den hätten die Toten Gewalt.

In einigen Gegenden, wenn Hirten oder Bergleute an gewissen Schluchten oder Gräben vorübergingen oder ausruhten oder schliefen, und nachher einen plötzlichen Schmerz an Füssen, Beinen, Armen, Händen, Augen oder Ohren fühlten, oder vom Fieberfrost geschüttelt wurden, und dann später bedenkliche Krankheiten daraus erfolgten, so heisst es, er ist in "d'Winda cho" — verwindet worden — was bei vielen so viel heisst, er ist in den Gratzug — unter den Totenzug oder das böse Volk (wilde Heer) gekommen. — Solche Übel seien sehr schwer zu heilen.

So allgemein der Volksglaube ehemals und teils noch wirklich an diese Totenprozession oder Symphonie ist, so weiss man überall zu erzählen, was man von derselben gehört; aber sehr wenig, was man von ihr gesehen hatte. Nur von wenigen vernimmt man, dass man einen stundenlangen Zug Weissgekleideter — oder auch wie einen finstern Schattenzug an Bergen und in Schluchten bei mondhellen Nächten auf und nieder habe steigen sehen.

Zum Schluss noch folgende interessante Volkssage aus der Bergschaft Emd. Dem sich dies ereignete, ist nicht vor langer Zeit gestorben und viele leben noch, die es aus seinem Munde, wie hier folgt, haben erzählen hören. An einer Temperzeit hörte dieser Mann in der Nacht, ungefähr um elf Uhr, dreimal seinen Namen rufen, mit dem Befehl, er solle schnell aufstehen und hinaufgehen in den Schleif, um das Holz, welches er da gefällt habe, aus dem Wege zu räumen; denn die Totenprozession müsse diese Nacht dort ihren Durchzug halten. Deutlich habe er in dem Rufen die Stimme seines unlängst verstorbenen guten Freundes erkannt. Beim dritten Rufen öffnete er das Fenster und antwortete entgegenrufend, er habe es verstanden und werde sogleich hinaufgehen. Wie er eben die Arbeit zum Teil schon vollbracht hatte, hörte er wieder die gleiche Stimme: «Eile, eile und stelle dich schnell ob den Weg.» Er strengte alle seine Kräfte an, damit schnell aufzuräumen. Da hörte er von der Kirche herauf zwölf Uhr schlagen und bei dem letzten Glockenschlag — ein starkes, hohles Brummeln, wie von zahlreichen Betenden einer Prozession. Wie er aufsah, erblickte er einen ungeheuer langen schwarzen Zug daherkommen. Als die letzten Holzstücke entfernt waren, blieb ihm kaum Zeit ob den Weg zu springen, so nahe war der Vortrupp. «Was glaubet ihr», fragte der Erzähler, «wie lange mag es gedauert haben, bis die Toten vorüber waren? — Drei lange Glockenstunden dauerte der Zug bis er an mir vorüber war, als die letzten vorüberzogen, da fing es unten an zu Betenläuten — es war drei Uhr morgens.»

Ähnliche Sagen von Gratzügen oder Totenprozessionen gibt es noch viele im Wallis.

 

Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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