Vor vielen, vielen Jahren war Aletsch noch kein Gletschermeer, sondern nur eine wilde Alpe, in welcher sich bis in den Winter einzelne Hirten aufhielten. Weil nun das Aletschtal beinahe vier Stunden von der Pfarrkirche lag, so mochten diese Nachhirten, wie man sie nannte, eben nicht die fleissigsten Besucher des Gottesdienstes sein und von einem derselben ist folgende Sage zu uns gekommen:
Einer dieser Nachhirten kam beinahe ganze Jahre niemals aus dieser Wildnis hervor; ja, er trieb das Einsiedlerleben so weit, dass er weder am Sonntag, noch an gebotenen Feiertagen in die Pfarrkirche nach Naters zum Gottesdienste herunterkam. Er wurde deswegen beim Pfarrer angeklagt und musste auf Befehl desselben vor ihm erscheinen. Als er sich zur Verantwortung stellte und gefragt wurde, ob er nicht wisse, was das zweite Kirchengebot verordne und warum er weder Messe anhöre noch die Hl. Kommunion empfange, gab er zur Antwort, weil er das nicht für nötig halte; denn er gehe alle Tage zu einem gewissen Felsen, dort verrichte ein Engel das Hl. Messopfer, dem diene er und erhalte von ihm die Hl. Kommunion. Natürlich konnte der Pfarrer das nicht glauben und zweifelte nicht, dass er vor ihm nur den Heuchler spiele. Er liess ihn also während der Messe und Predigt, wie er sich während der Zeit betrage, strenge überwachen. Nun sagte der Pfarrer nach dem Amt: «Wie hat sich unser Aletschmann während dem Gottesdienste aufgeführt?» «Ohne Tadel», antwortete der Aufseher, «nur sahen wir, dass er einmal weinte und einmal lachte.» Hierüber zur Antwort gestellt, sagte er: «Ich weinte, weil ich sah, dass unter der Predigt zwei Weibsbilder so viel schwätzten, dass der Teufel, der alles hinter ihnen aufschrieb, schon eine ganze Kuhhaut überschrieben hatte. Über diese vielen Sünden weinte ich. Da ich aber sah, als der Teufel die Kuhhaut mit den Zähnen auseinanderziehen wollte, um sie zu verlängern und mehr Platz zu gewinnen darauf zu schreiben, dass die Haut vor lauter Ziehen auf einmal zerriss und der Teufel den Kopf heftig rückwärts an die Mauer geschlagen hatte, da konnte ich mich freilich des Lachens nicht enthalten.» — Voll Erstaunen, dass dieser Hirt so etwas sah, was nur ein Heiliger beobachten konnte, entliess ihn der Pfarrer mit aller Hochachtung in seine HI. Einsamkeit zurück — und niemals wurde er ferner verklagt oder mehr zur Verantwortung aufgefordert.
Andere erzählen, der Pfarrer sei selbst nach Aletsch gegangen und habe den Hirten gefunden, als er eben in der Messe war. Dieser habe ihn angewiesen, den rechten Fuss über seinen linken zu setzen und ihm über die Achsel zu schauen, worauf der Pfarrer den Engel am Altare auch gesehen habe. Der Felsen, an dem der Engel soll Messe gelesen haben, heisst noch jetzt die "Messfluo". Der Pfarrer habe dann den sonderbaren Mann eingeladen, auch einmal nach Naters zum Gottesdienste zu kommen, wo er ihn überwachen liess.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch