Auf der Aare, Törbjeralpe nahe der Grimsel, begegnete ein Hirt, der ein verlorenes Rind aufsuchte, in der wildesten Gegend, wo nur Gletscher und kahle Felsen zu sehen, bei finsterem Regenwetter zu seinem grossen Erstaunen einer vornehmen Dame, welche gegen den Gletscher wanderte. Er verdoppelte seine Schritte, um derselben seine Dienste anzubieten, falls sie sich verirrt hätte. Bei seiner Annäherung bemerkte er, dass sie schön, jung und vornehm war, aber was ihm am meisten auffiel, dass sie keine Kopfbedeckung hatte und barfuss einherging. Aus ihren prächtigen Haaren, welche in reichen Locken auf ihre Schultern herabfielen, tröpfelte der Regen, an ihrem Lilienhalse hing eine Goldkette, ihre schlanken Lenden umgab ein kostbarer Gürtel und ihre Arme waren gleichfalls mit goldenen Brasseln geschmückt. An den Fingern ihrer kleinen schneeweissen Hände glänzten Ringe mit Diamanten besetzt. Ihre blossen Füsse, welche von der Kälte und Nässe gerötet waren, schienen so zart zu sein, dass jedes Steinchen selbe hätte verwunden müssen. Mit einer Hand hielt sie züchtig die seidene Schürze empor, um sich den Gang zu erleichtern durch die raue Gegend, in der andern führte sie einen langen Reisestock. Sie trat mit ihren delikaten Füssen auf die harten, kalten und nassen Steine so behutsam, dass man sah, jeder Tritt mache ihr Mühe und verursache ihr Schmerzen. Ihr holdseliges Angesicht trug die Spuren von vielem Weinen, in ihren grossen und sanften Augen schimmerten noch frische Tränen und ihre feinen Lippen öffneten sich zu leisen Seufzern und Gebeten. Voll Verwunderung über diese seltsame Erscheinung und von tiefem Mittleiden gerührt, fragte er: «Aber um Gotteswillen, meine schöne gute Frau, wo wollet ihr hin bei so harter Witterung und in einer so wilden Gegend? Ihr müsst euch ganz verirrt haben? Ach dass Gott erbarm! Ihr geht da barfuss, ohne Hut und Regenschirm, gewiss seid Ihr verunglückt? Oder wo sind denn Eure Bedienten? Habet Ihr keinen Führer mitgenommen? Ihr seid doch nicht zu Fuss bis hier gekommen? Ohne Zweifel seid Ihr nicht ferne von hier vom Pferde gestiegen und habet allein Euch zu weit von Eurer Begleitschaft entfernt und verirrt?» — «Nein, mein guter Junge», erwiderte die Dame mit einer lieblichen Stimme, «ich habe mich nicht verirrt; ich komme wirklich hierher ohne Begleitschaft, ohne Pferd, ohne Diener, ohne Hut, Schuhe und Regenschirm. Soeben komme ich von einer grossen Stadt und glänzendem Palaste. Mein Leib liegt noch warm in Mailand auf dem Totenbette, um welchen meine lieben Eltern als um ihre einzige Tochter bitterlich weinen und ihn mit ihren Tränen benetzen. Ich bin von Gott verurteilt worden, dass ich in diesem Gletscher abbüssen muss, weil ich bei Lebzeiten fast auf keine Erde getreten, weil ich immer in der Kutsche fuhr, niemals in eine Traufe kam, nie ohne stattliche Begleitung mich vom Hause entfernte, nie einem kalten Lüftchen mich aussetzte, keine anständige Freude mir versagen durfte, mich vor aller Anstrengung und Mühe fürchtete, darum bin ich zur Strafe meiner Verzärtlichung verurteilt, in dieser rauen Wildnis barfuss, in Regen, Kälte, und Ungewitter zu wandeln und in diesem Gletscher abzubüssen — dies ist mein Fegfeuer — denn ausser dieser Verzärtlichung habe ich keine Sünde begangen.» — Bei diesen letzten Worten kam plötzlich ein dichter finstrer Nebel und kalter Regenschauer daher, welche ihm die liebliche Gestalt aus den Augen nahmen. Als nach wenigen Augenblicken der Regenschauer mit dem dichten Nebel vorüber war und die Gegend wieder etwas sich aufheiterte — da war keine Spur von der schönen Frau mehr zu erblicken. Augenblicklich, aber leider zu spät, fiel ihm ein, Gott habe nicht umsonst es zugelassen, dass sie ihm in so schöner Gestalt erscheinen durfte. Gewiss habe ihr zur völligen Erlösung nur wenig gefehlt; ach, statt der unnützen Fragen, hätte er ihr seine Hülfe anbieten sollen, womit er sie erlösen könnte. So laut er vermochte, rief er jetzt in die Gegend, wo sie verschwunden: «Schöne Frau, so saget mir doch, womit kann ich Euch erlösen?» Aber statt einer Antwort kam jedes Mal ihm nur ein schwacher Widerhall von seinen letzten Worten zurück; melancholisch rauschte der Bach; dumpf donnerte der Gletscher, bleiche Nebelgestalten stiegen aus den Gletscherspalten auf und nieder — aber von ihr sah und hörte er nichts mehr. — Und so oft ihn später eine wunderbare Sehnsucht bei Nebel und Regen in diese wilde Gegend hinführte und er sich an die nämliche Stelle setzte, wo die zarten Füsse der herrlichen Frau gestanden, sein Angesicht nach der Gegend wandte, wo sie verschwunden und die ehemalige liebliche Erscheinung sich recht lebhaft zurückträumte und oft mit lauter Stimme rief: «Schöne Frau, kann ich noch etwas tun, um Euch zu erlösen!» — so kam immer der gleiche schwache Widerhall von den Felsen zurück, wie ehemals. Oft kamen auch jetzt dichte finstere Nebel mit kaltem Regenschauer an ihm vorüber wie damals; der Talbach rauschte ebenso melancholisch und der Gletscher liess auch jetzt ein dumpfes Donnern hören wie damals; die ganze Gegend war auch jetzt ebenso wüst und aus den Gletscherspalten tauchten auch bleiche und seltsame Nebelgestalten auf und nieder wie damals — aber die holde und schöne Frau sah und hörte er zu seinem grössten Leidwesen niemals wieder.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch