Vor alten Zeiten ging einmal ein frommer Pater, der Professor war, mit seinen jungen Schülern in das Aletschtal spazieren, um dessen grossen Gletscher zu sehen. Er betrat mit ihnen denselben; aber kaum, dass sie ihn erstiegen hatten, so machte der Pater Halt und wollte auch den Studenten weiter vorwärts zu gehen nicht erlauben. Als er um die Ursache gefragt wurde, soll er ihnen geantwortet haben: «Wenn ihr wüsstet was ich weiss und sehen könntet was ich sehe, so würdet ihr gewiss keinen Schritt mehr vorwärts tun.» Die Schüler noch neugieriger, fragten ihn wieder, was er denn sehe? Und er legte einen Finger auf den Mund, als wollte er ihnen Stillschweigen gebieten und sagte mit halblauter Stimme: «Weil der Aletschgletscher voll armer Seelen ist.» Da aber einige Schüler darüber ungläubig den Kopf schüttelten, sagte er einem derselben: «Komm hinter meinen Rücken, stelle deinen rechten Fuss auf meinen linken und schaue über meine Achsel auf den Gletscher hinüber!» Da erblickte er voll Entsetzen aus den blauen Gletscherspalten so viele Köpfe armer Seelen emportauchen, dass man keinen Fuss hätte dazwischensetzen können. «Es ist doch wahr, was meine Eltern mir ehemals sagten», rief er aus; «Wenn ich sie fragte, woher die kleinen Kinder kommen, gaben sie mir zur Antwort: «Der Waldbruder holt sie aus dem Aletschgletscher.»
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch