Der Rufer auf dem Flimserstein

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Die Geschichte ist so alt wie die roten Streifen am Flimserstein, jener mächtigen Felsenstirne über den waldumsäumten Matten drüben am sanftern und sonnigern Anstieg zur Segneshöhe, und solange dies Male dort oben zu sehen sind, so lange wird man auch davon erzählen, dass sich die Glarner und Bündner einst entzweit hatten und einander mit Zank und Reibereien das Leben vergällten, wo und wie sie nur konnten. Da stieg denn auch einmal eine Schar handfester Glarner über den Berg, um den Flimser Sennen das Vieh wegzunehmen. Sie überrumpelten die Hirten auf dem Flimserstein und warfen sie samt und sonders in die siedende Milch, bis auf einen jungen Burschen, der sich noch rechtzeitig versteckt hatte. Der wartete, bis die Glarner das Vieh zusammengetrieben hatten, und als der letzte Schwanz der geraubten Herde beim Segnes oben verschwunden war, kroch der Bursche hervor und erklomm eine hohe Wettertanne, ganz zuäusserst auf der Felswand, und blies ins Horn:

«Trubina, Trubina!
s’Landamma’s die bru Chua
Mit der grossa Schälla
Und alls goht vorna duri
Dem Glarnerland zua
Ih gugam ih guga;
Mi Guga verspringt.
Gott Vater, Gott Suhn
Zum Himmel mi bringt.»

Er blies und blies, bis ihm das Herz zersprang und er tot herabfiel. Sein Blut rieselte über das Gestein herab und färbte es rot, blutrot für alle Zeit und Ewigkeit.

In Flims unten wohnte ein hübsches Mädchen, eben die Trubina. Und weil der junge Senne ihr Liebster war und ihr jeden Morgen und Abend mit dem Horn einen Gruss zugerufen hatte, so war sie die erste, welche die Mahnung vom Flimserstein vernahm und verstand. Sofort rief sie alle Leute zusammen, und die wägsten Männer eilten den Glarnern nach. Als sie die Wasserscheide überschritten hatten und tief unter sich die grauen Schindeldächer von Elm erblickten, gewahrten sie, wie die Glarner eben das gestohlene Sennten in eine Hoschet trieben und an den Bäumen festbanden, um es feilzubieten. Vorerst aber gingen Raubgesellen, Kauflustige und alle Dorfbewohner ins nahe Wirtshaus, den geglückten Handstreich gebührend zu feiern. An Wein fehlte es nicht, und darum bald auch nicht an grossen und lauten Worten, und je fleissiger sie in die Becher guckten, um so weniger schauten sie durchs Fenster hinaus nach dem Vieh, sondern waren selig und zufrieden, wenn sie’s draussen nur glöckeln hörten. Der frühe Mond war schon einen guten Schritt weit vom Zwölfihorn weg in den Abendhimmel gestiegen, als die trunkesschweren und sorglosen Zecher das Wirtshaustrepplein herabtappten, um ihre Kühlein an den Mann zu bringen. Da fanden sie im Baumgarten nur noch einen schwarzen Muni, über und über mit Kuhglocken behangen. So hatten ihn die Bündner zurückgelassen, nachdem sie herbeigeschlichen, dem Vieh alle Schellen und Glocken abgenommen und es ohne Herdengeläute längst wieder über den Segnes zurückgeführt.

 

Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch

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