Am Martinsloch

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

In der langen Felsenwand der zerfressenen Tschingelhörner ob Elm ist ein mächtiges Fenster zu sehen, gerade als ob ein Riese mit einem ungeheuren Hammer ein haushohes Loch aus dem grauen Gestein herausgeschlagen hätte. Es heisst das Martinsloch, und die Elmer kennen es wohl, denn zweimal im Jahr scheint die Sonne just durch dieses Loch auf den Käsbissenturm ihres alten Kirchleins. Woher aber das Bergauge wohl seinen Namen hat?

In alten Zeiten soll hier hinten der heilige Martin, abseits der Welt, in allem Frieden seine Schafe gealpnet haben, bis eines Tages ein Riese von der andern Seite des Berges her sich an die Herden gemacht habe. Darüber soll der Heilige dermassen in Zorn geraten sein, dass er ihm seinen schweren, eisenbeschlagenen Bergstock nachwarf und zwar nicht den Riesen, wohl aber die Felswand traf, aus der unter dem gewaltigen Anprall mächtige Felsblöcke heraussplitterten.

Die Bündner auf der andern Seite des Gebirges wissen aber noch anderes zu erzählen. Ein Flimser, mit seiner schönen Tochter Maria, habe oben am Segnespass seine Schafherden geweidet; dabei sei der Tochter ein junger Senn auf der Glarnerseite derart ans Herz gewachsen, dass sie von dem reichen Bündner, den ihr der Vater längst ausgelesen hatte, nichts mehr wissen wollte. Auf Martinitag nun musste der Glarner Senn wieder ins Sernftal hinunterziehen, denn die Nebel kamen, und es wurde kalt, und er fand weder Zeit, noch Gelegenheit, von dem Mädchen Abschied zu nehmen. Maria, von ihrem Heimweh getrieben, stieg ihm in die Tiefe nach aber sie verlor im Nebel den Pfad und verirrte sich in den Felsbändern der Tschingelhörner. Auf einmal aber schaute sie durch ein mächtiges Felsenfenster auf ein kleines Dorf hinunter, das mitten im Sonnenglanz lag, und die goldenen Zeiger am Turm leuchteten und zeigten ihr den Weg in die Heimat des Sennen. Im Hause seiner Eltern fand sie den ganzen Winter hindurch Obdach bis zum Tag der Lichtmess, wo sie nun Hand in Hand wieder über den Berg zurückgingen, um jenseits im Bündnerland den Segen des Vaters zu erbitten. Doch als dieser das Paar kommen sah, verriegelte er Fenster und Türen und jagte sie beide mit Schimpf und Schande davon. Zuletzt sind sie noch gesehen worden hoch oben am Felsenfenster des Martinsloches, und dann nie mehr. Der Zugang aber verwitterte vom Tag an und ward schwer zu erklimmende Wildnis bis auf den heutigen Tag. Nur die Sonne findet noch ihren Weg und scheint hinunter auf den stillen Gottesacker von Elm.

 

Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch

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