Wanderer, ich rate dir gut, gehe nicht in der Altjahrnacht auf der Strasse nahe der «Gnüsswand» vorbei! Solltest du auch an deinem Leibe keinen Schaden nehmen, so würde dir doch ein entsetzlicher Schreck zuteil, der dir Fleisch und Bein erzittern machte, vielleicht in deinen Gliedern bliebe, solange du lebst.
Wenn in der letzten Jahresnacht in den Kirchdörfern im Tal der Linth die Glocken beim Scheiden des alten Jahres läuten und hier friedliche Stille zu herrschen scheint (denn man hört dort hinten die Glocken nicht), dann fängt ein Raunen und Summen, ein Zischen und Schreien im Innern des Berges an.
Wenn dann nach Mitternacht die Glocken das neue Jahr einläuten, dann kommt’s hervor aus den Felslöchern und Spalten der «Gnüsswand»: Schaurige Gestalten mit Menschenköpfen und Krallen an Händen und Füssen, wie mit Fledermausflügeln sich durch die Luft bewegend. Andre fliegen mit ihren grauweissen Mänteln wie mit Flügeln durch die Nacht. Dazwischen siehst du fliegende Molche, Drachen und Basilisken, alles in wirrem Durcheinander. Ihre Augen sprühen Feuer, ihre Rachen hauchen schweflige Dünste, und aus ihren Mäulern tropft Geifer. Das eine Mal fliegt das wilde Heer gegen Altenoren und zurück, dann gegen das Tierfehd, um gleich mit schauderhaftem Geschrei wiederzukehren.
Der Wanderer bleibt wie angewurzelt stehen, denn der Schreck lähmt ihm die Glieder. Er kann nicht weitergehen, immer muss er nur schauen. Er wagt auch nicht umzukehren, aus Furcht, die Ungeheuer könnten ihn im Rücken angreifen. So muss er an die Stelle gebannt stehen, bis in der Talkirche die Turmuhr die erste Stunde des neuen Jahres schlägt.
Nun erst kann der Wanderer weiter seiner Wege gehen, wenn nicht der Schrecken seine Glieder völlig gelähmt hat, dass er etwa gar hilflos noch lange am Wege liegenbleiben muss.
Woher kommt nur dieses schaurige Treiben der Geister in der Silvesternacht? Über die Ursache weiss die Sage Aufschluss.
Vor urdenklich langer Zeit wohnten hinten im Linthtal rohwilde Menschen, rechte Wildleute. Sie wussten nichts von der Liebe zu den andern. Am wenigsten aber achteten sie des Schmerzes der stummen Kreatur. Das Vieh, obschon es ihnen Speise gab, misshandelten sie, schlugen es mit Stöcken und Fusstritten und liessen es auch sonst darben.
Da kam das Unheil und die harte Strafe. Nachdem im vorhergehenden Winter unerhört viel Schnee gefallen war, bereitete eine ungeheure Lawine ihren Sturz zu Tal vor. Das Vieh hatte Witterung davon und floh auf die seitlichen Höhen. Die Wildleute aber wurden mit Blindheit geschlagen und alle unter der Lawine begraben. Die Leiber fanden hier ihr kaltes Grab. Ihre Seelen aber müssen zur Strafe für ihre Untaten, ohne menschliche Sprache, mit teilweise tierischem Aussehen und ebensolchen Gewohnheiten bei Molchen und Drachen in der Tiefe des Berges hausen. Nur einmal im Jahre, eben in der Altjahrnacht, dürfen sie den Ort ihres einstigen Wirkens schauen. Wenn einst im Umkreis von drei Stunden ein weisser Stier zur Welt kommt, dann wird der Zauber gebrochen sein, und diese armen Seelen werden nach vielhundert Jahre langer Busse endlich ihre Ruhe finden.
Einige erzählen, das verschont gebliebene Vieh der Wildleute sei von gütigen Menschen aus dem Tale zuhanden genommen worden, welchen es einen sonst nie erreichten Nutzen brachte. Einem von ihnen sei im Traum ein Zauberspruch gesagt worden, mit der Weisung, wenn er diesen an Sohn und Enkel weitergebe, so werde nach hundert Jahren der Bann gelöst sein. Der habe aber den Spruch vergessen, sei selbst unter die Lawine der Wildwüste gekommen und getötet worden. Der Zauber über die Seelen der Wildleute sei deshalb bis heute ungelöst geblieben.
Wer aber nicht an den Zauber der alten Geistersagen glaubt, der mag in der Altjahrnacht wie sonst an der «Gnüsswand» vorübergehen und wird nichts sehen als das dämmrige Dunkel der Felsen und Gebüsche und nichts hören als das Rauschen der nahen Linth und das Murmeln der Felix-und-Regula-Quelle. Die tiefe Ruhe, die sonst hier herrscht, wird auf ihn ergreifend wirken in dem von himmelanstrebenden Bergen umschlossenen Alpental.
Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch