Wenn einem Nidfurner die Uhr stillsteht, so schaut er einfach nach dem Schwandner Zyt und braucht nicht einmal den Nasenspiegel aufzusetzen, so nahe ist der Nachbarort mit den hohen Fabrikschloten. Ein Katzensprung ist’s bis dort – tagsüber; aber zur Nachtzeit kann sich die Strasse auf Stunden dehnen, besonders wenn man allein ist. Kommt da ein später Heimkehrer, der in Schwanden bei frohen Freunden einen fröhlichen Trunk getan und nunmehr mit sich und der übrigen Welt völlig zufrieden ist, gegen das Wyden zu. Seine Füsse finden den gewohnten Weg von selbst, seine Gedanken gehen einen andern. Da schreckt er plötzlich aus dem Traumwandel auf. Hat nicht jemand gerufen? Ganz nahe muss es gewesen sein, dort jenseits des Strassengrabens, beim Haselbusch. Jetzt vernimmt er’s wieder: eine Frauenstimme ist’s, die leise um Hilfe jammert. Und unser Wanderer, der in seiner gehobenen Stimmung an keinem Leid vorübergehen kann, schlüpft durch den Lattenzaun in die Wiese und eilt auf das Gesträuch zu, das dunkel am Wiesenbord hockt. «Wer ist da?» Es bleibt alles still. Schon will er wieder auf die Landstrasse zurück, da hört er den Ruf von neuem. Diesmal aber ist’s ein süsses Locken: «Komm, komm!», einschmeichelnd und sanft zwingend wie die ersten Geigenstriche eines Kilbiwalzers. Auch will ihm scheinen, dass nun der Ton von der Linth herkommt. Und er muss ihm folgen, ob er will oder nicht. Hinüber geht’s an den Fluss, wo die Schmelzwasser an die Wuhre schlagen und die zarten Laute im Rauschen der Wogen versinken. Mühsam klettert der Mann über die Uferblöcke zurück, und wie er oben an der Böschung steht und lauscht und seine Augen durch die Finsternis nach der Strasse forschen, da dringt das Rufen vom Glärnischhang, vom Blumerwald herab, fein und doch so mächtig, dass der arme Nachtgänger willenlos und blindlings über Mauern und Zäune, Gräben und Büchel hinaufstürmt. Er rennt, er stolpert – atemlos erreicht er den Waldsaum. Da – ein Knacken im Gezweig, ein Aufflattern wie von einem Vogel –, und das liebliche Klagen sitzt wieder im Wyden unten.
So dauert die rastlose Jagd, bis das Vrinelisgärtli im fahlen Frühlicht auftaucht und die Sonne den Tödi rötet. Dann steht der Genarrte endlich am Nidfurner Stutz, gerade wenn die Bauern ihren Gäden zutappen und die Fabrikarbeiter mit den Znünikesseli aus den Türen treten. Die jungen Mädchen kichern und zeigen wohl auch auf die müde, wankende Gestalt am Strassenrand. Die alten Leute aber, welche bald ein halbes Jahrhundert lang denselben Weg ans Tageswerk gehen, werfen einen mitleidigen und verständnisvollen Blick auf den Unglücklichen, denn sie wissen wohl, dass ihn das Wydenweiblein im Banne hatte.
Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch