Es war Anno 1701 oder im folgenden Jahre, jedenfalls in der Zeit, da das Grosstal kurz nacheinander von etwa vierzig Erdbeben berührt wurde, als ein ehrlicher Bürger von Linthal um Mitternacht erwachte, weil er jemand hatte rufen hören. Erst glaubte er, geträumt zu haben. Doch kaum hatte er sich umgedreht, um wieder unter den Laubsack zu schlüpfen, da vernahm er den Ruf zum zweiten Male. Es war eine unbekannte Stimme, die deutlich wie ein Wächter seinen Namen rief. Rasch sprang der Linthaler aus seinem Bettkasten, eilte ans Fenster und stiess die «Brittli» auf. Von einem grellen Feuerschein geblendet, prallte der gute Mann zurück. Vor seinem Hause schritt einer vorbei – war es ein Mensch oder ein Geist? –, der trug ein grosses flackerndes Licht und strebte damit der Kirche zu, um im nächsten Augenblick darin zu verschwinden. Gleich darauf stand das Gotteshaus in vollen Flammen, so dass das ganze Dorf in schauriger Brandröte aufleuchtete. Kaum hatte sich der Linthaler von seinem ersten Schrecken erholt und eben um Hilfe rufen wollte, da erlosch der Spuk. Sonderbarerweise entdeckte man am folgenden Tage an der Kirche nicht die geringsten Brandspuren.
Nicht lange darauf wanderten sechs junge Burschen nachts an der Kirche vorbei. Sie waren in guter Stimmung bei einer «Spinnstubete» gewesen und wollten heim zu. Plötzlich bemerkten sie, dass der Kirchturm schwankte. In den Gebälken des Schiffes krachte es, und man hörte ein Gepolter, als ob die ganze Kirche einstürze. Das war auch für die sonst unerschrockenen Linthaler Burschen zu viel. Sie flüchteten so schnell als möglich von der unheimlichen Stelle. Anderntags stand die Kirche unversehrt wie immer. Allgemein erblickte man in den seltsamen Geschehnissen Wunderzeichen, die nichts Gutes verhiessen.
Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch