In der Nacht, die selbem Tage folgte, ging es wie gewohnt im Kloster lustig zu. Niemand ahnte das furchtbare Geschick, das den jungen Klosterküher erreicht und die zahlreiche Herde vernichtet hatte. Mitten unter den Nonnen sassen der rotbackige Beichtvater und einige hereingelockte leichtfertige Jünglinge des Tales – und anstatt des "dies irae", das hier am Platze gewesen wäre, sangen sie freche Lieder und liessen sich’s an der mit Speisen und Wein wohlbesetzten Tafel trefflich schmecken. Draussen schnob der Wind und trieb dicke Tropfen an die bunten, klirrenden Fenster. Um so behaglicher fühlte sich drinnen die wüste Rotte. Der volle Becher kreiste, und der schäumende Wein floss durch die glühenden Adern.
Mitternacht kam. – Da klopfte es an der Klosterpforte, erst dumpf, dann immer lauter und heller, bis endlich sich die Pförtnerin aus den Armen des Gärtnerbuben losriss, um nachzusehen, welcher Störefried des Klosters Lust unterbreche. Unwirsch schob sie das Torfensterchen zurück und zündete in die Dunkelheit hinaus.
Siehe, da erschien an den Eisenstäben ein todbleiches Gesicht mit schneeweissen Locken, und die zitternde Stimme einer Greisin begehrte Einlass. «Ein scheusslich Wetter droht», berichtete sie. «Der Himmel ist schwarz wie ein Sargtuch, statt der Sterne leuchten Blitze, der Schräjenbach heult wie ein hungriger Wolf, und die Linth braust wie ein Totenlied! Darum lasst mich ein, ehrwürdige Schwester! Ich bin alt und schwach und müsste verderben in dem Unwetter! Zudem hungre ich sehr und flehe um die Brosamen aus der Klosterküche – um Gottes und aller Heiligen willen, verstosset mich nicht!»
Die Schwester schob brummend das Fensterchen wieder vor und eilte in den Speisesaal, um die Oberin von der Bitte der alten Frau zu unterrichten. Ein teuflisches Grinsen fuhr über das Gesicht der Mönchin: «Führe sie herein!»
Während die Pförtnerin hinausging, der Oberin Befehl zu vollziehen, wandte sich diese zu den Anwesenden: «Es ist Zeit, dass wir einmal ein abschreckendes, aber heilsames Beispiel geben! Das Gesindel frisst uns sonst am Ende noch auf! Reiht Euch alle in Prozession und dann macht mir alles genau nach!»
Als nun jetzt die alte Frau, triefend vom Regen, in den hellerleuchteten Saal trat – als ihr trübes, tiefliegendes Auge in den ungewohnten Glanz starrte und auf die reichen Speisen, unter denen der Tisch sich bog, als sie flehend die magere Hand ausstreckte und den halbnackten, nur mit Fetzen behangenen Arm - da brach die Oberin des Klosters in ein lautes Gelächter aus, das sie gotteslästerlich in die Melodie der heiligen Messe kleidete, schritt vor und versetzte der bittenden Greisin einen klatschenden Backenstreich. Und so wandelte die ganze Prozession an ihr vorüber, und jedes aus der langen Reihe schlug das arme Weib. Und als zuletzt nach vollendetem Umgang die Oberin wieder zu der Armen kam, da stiess sie sie mit den Fäusten aus der Tür, und in wildem Jubel und Hallo half ihr der höllische Schwarm. Rasselnd wurde hinter der Verstossenen die Klosterpforte zugeschmettert, und lauschend standen die Nonnen und ihre Gesellen noch im Kreuzgang, begierig zu vernehmen, was die Alte nun beginnen werde. Draussen war es eine Weile lang grabstill.
Dann aber sprangen, von Geisterhand gelöst, beide Torflügel auf, eine Donnerstimme rief herein: «Wehe! Wehe! Wehe!» und vor der Türe leuchtete eine glänzende Helle. In einem Kreise von goldenen Strahlen erschien die verhöhnte und verstossene Alte. Ihre Lumpen aber wurden prachtvolle, wallende Gewande, die Runzeln des Antlitzes glätteten sich, der Kummer verwandelte sich in einen Ausdruck düstern Ernstes. Es war die Schutzherrin des Klosters, die heilige Mutter Jesu.
Mit einer Stimme, die den Schuldigen durch Mark und Bein drang, sprach sie: «Ihr habt mein Haus zu einer Mördergrube gemacht! Hungrig war ich, und Ihr habt mich nicht gespiesen! Durstig war ich, und Ihr habt mich nicht getränkt! Nackend war ich, und Ihr habt mich nicht gekleidet! Verlassen war ich, und Ihr habt Euch meiner nicht angenommen. Wie Ihr mich verstossen habt aus diesen der christlichen Liebe geweihten Hallen, so verstosse ich Euch jetzt aus meinem Herzen und übergebe Euch den finsteren Mächten, denen Ihr gedient habt, Fluchbeladene!»
Undurchdringliche Finsternis umgab mit einem Mal alle. Die Lampen in den Klostergängen verlöschten. Erstickende Schwüle und heisser Schwefeldampf drangen von aussen herein. Man hörte nichts als das Klopfen angsterfüllter Herzen, auf denen zentnerschwer die Ahnung kommender Vergeltung sich lagerte.
Plötzlich wurde der ganze Klosterbau in seinen Grundfesten erschüttert — ein dumpfes Brausen, wie von Wasserfluten, liess sich hören und wurde bald zum wilden Tumult. Ein flammender Blitzstrahl gab das Zeichen zu ununterbrochenem zischendem Wetterleuchten; sinnverwirrendes Donnerkrachen warf Schlag auf Schlag die Sünder in den Staub.
Am Morgen spiegelte sich die Sonne nicht in den bunten Fenstern des Klosters. Kloster, Wiesen und Gärten waren verschwunden. Verschwunden bis auf die letzte Spur. Eine wüste Schlammmasse wälzte ihre grauen Fluten durch das eben erst noch im Frühlingsschmuck prangende Auental. Vom Kloster war kein Stein, von seinen Insassen keine Seele mehr zu schauen. Düsteres Schweigen herrschte über dem gewaltigen Grab, dem Gomorrha Helvetiens.
Seither hat der Schlamm sich zu fetter Erde verdichtet, und wieder blüht das Auen im reichen Schmuck einer gütigen Natur. Aber, obgleich der Boden fett und die Lage lockend ist, hat doch das Grauen, das seit des Klosters Untergang auf jenen Räumen haftet, das Entstehen eines Dorfes verhindert. Die Talbewohner bauten sich mehr auswärts, im heutigen Ennetlinth und Linthal, an und begnügen sich, die schönen Auengüter von dort aus in Ehren zu halten.
Alte Männer behaupten, das Kloster sei jetzt noch in Weesen, nur unterirdisch. Und in frühen Jahren habe man oft ein dumpfes Läuten vernommen, das zwischen dem Fätsch- und Schräjenbach, aber auf der Ostseite der Linth, aus dem Boden gekommen sei, gerade dort, wo einst das Kloster gestanden. Wer dann das Ohr auf die Erde gelegt, habe das Geläute des Metteglöckleins deutlich vernommen und hernach einen klagenden Gesang gehört, von dem folgendes zu verstehen gewesen sei:
«Der Marias Schuld geendet,
Sich zum Schächer mild gewendet,
Hat auch Hoffnung uns gespendet!
Ist auch sonder Werth dies Lallen,
Doch lass, Mildester von allen,
Uns nicht ewiger Pein verfallen!»
Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch