Vor vielen, vielen hundert Jahren stand hinter Linthal in den Auen ein wohlgebautes und reiches Nonnenkloster, von welchem die letzten Trümmer verschwunden sind. Aber die Sage, die sich von einem Geschlecht aufs andere vererbt, braucht keine Steine zum Gedächtnis. Sie erzählt uns, die Bewohnerinnen des Klosters seien einem üppigen Leben ergeben gewesen, und der fromme, keusche Sinn, der einst ihr Gotteshaus stiftete, sei bald nach des Klosters Entstehung mit den frommen Stifterinnen untergegangen.
Frönten die Nonnen ihren Lüsten und reute sie nichts zur Letzung derselben, schwelgten sie in Hülle und Fülle, so liessen sie dagegen ringsherum die Armut darben. Kein Dürftiger ging getröstet, kein Hungriger gesättigt von ihrer Klosterpforte, und manchen stillen Fluch liess das verstossene und gehöhnte Elend auf der Schwelle zurück.
Dem Kloster gehörten die schönsten Alpen weit ins Gebirge hinein; stattliche Herden beweideten sie und mehrten durch ihren Ertrag den Reichtum der Schwestern. Ihre fetteste Alp trug der Selbsanft in schwindelnder Höhe, da wo jetzt, gegen die Pantenbrücke zu, eine glänzende Eiszinne, ein ewiger Firn zu Tale starrt.
Der Mai war gekommen, die Giessbäche donnerten fesselfroh in die Schächen und Schlünde, dem Vieh ward’s enge in den niedern Gäden und Ställen; es brüllte und strebte hinaus und hinauf zu den Wohnungen der Gemsen. Mit silbernen Treicheln wurden des Klosters Vorderkühe geschmückt, und Balz, der junge Klosterküher, machte sich fertig, mit seiner stattlichen Herde die Alp am Selbsanft zu beziehen.
Bis tief in die Nacht hinein hatte der hübsche Bursche in der Conventstube gezecht und geschwelgt und Mutwill getrieben. Am Morgen war sein Kopf wüst und wirr — und unwillig, das lustige Leben auf lange missen zu müssen, trieb er das Vieh mit Stockschlägen vor sich her.
Zum Limmernsteg gelangt, drang ein kreischender Hilferuf an sein Ohr. Als er hinuntersah in den Bach, woher das Geschrei kam, erblickte er ein altes, verschrumpftes Weiblein, welches, von der schwankenden Brücke hinuntergestürzt, mit den tobenden Fluten rang. Flehend streckte sie ihre Arme aus nach dem daherziehenden Knecht. Aber ihr Jammer belustigte den Bösewicht nur, statt ihn zu rühren. «Ei, wie lieblich du singen kannst, alte Lerche!» spottete er.
«Nur deinen Stecken reiche mir herunter!» flehte das Weiblein, «damit ich mich daran festhalten kann!»
«Ei wo denkst du hin!» entgegnete der Balz. «Ja, wärest du die junge Ursula, oder die hübsche Verena – da brauchtest du nicht lange zu wimmern! Aber wer wollte sich nach so einem alten, dürren Kuhfladen bücken!»
Da hörte mit einem Mal das Wasser des Limmernbaches auf zu rauschen, und das Weiblein in der Tiefe richtete sich auf und wuchs und wuchs und hörte nicht auf zu wachsen. Ihre grauen Riesenlocken schüttelte eisiger Wind, aus ihrem weitklaffenden Munde klang es wie dumpfer Lawinendonner, und unter ihren weissen, flatternden Brauen hervor glänzte ein schauerlicher Grabesblick. Mit ungeheuern Schritten wanderte das Bergweib die Felsen hinan und legte sich oben als grauer Nebel um die Eisspitze des Selbsanft.
Wohl durchfuhr kalter Schauer den Küher; aber bald übertäubte er mit gellendem Gelächter das Klopfen des Herzens, fuhr brüllend wie ein Besessener in seine Herde und jagte sie mit verdoppelten Schlägen hinauf in die heiligen Höhen des Bergfriedens.
Keuchend erreichte endlich das Vieh mit seinem Treiber die Alp. Diese hatte ihr schönstes Feierkleid angezogen und lachte dem Ankömmling entgegen mit tausend blauen Enzianenaugen. Aber Balz verstand die Blicke der Natur nicht. Mit rohem Gejodel durchzog er die Hochau. Als er fast am Rande der Alp angelangt war, da wo die steile Felswand in den ewig brodelnden Talkessel abschiesst, richtete er den frechen Blick nach des Berges Spitze und rief in tollem Übermut dem Bergweib, dass es kommen möge, um mit ihm zu kosen.
Und horch! — Eine schauerliche Stimme antwortete aus den nebelumflossenen Klüften: «Ich komme!»
Darauf begann in den Wolken, die den Selbsanft umlagerten, ein reges Weben und Winken. Dann rauschte und brauste es, erst dumpf und fern, dann immer lauter und lauter und näher. Endlich warf ein heulender Wind den Nebelschleier zurück, und Balz sah mit unnennbarem Schrecken das Bergweib, wie es auf einer Gletschermasse daher geritten kam. Der Firn nahm die ganze Breite der Alp ein und kam immer näher und näher und rutschte immer langsamer und langsamer vorwärts, und die Drude weidete sich, auf einem Thron von Eis sitzend, mit heiserem Gelächter an der Todesangst des Elenden. Dichter und dichter drängte die Herde sich angstvoll um den Hirten zusammen, immer mehr gegen den unermesslichen Abgrund zu.
Da gab es kein Entrinnen mehr. Vergeblich klammerte sich der Hirte an eine Stange. Krachend stürzte, vom Eis gedrängt, der Zaun zusammen. Umsonst erhob Balz ein mark- und beindurchschütterndes Jammergeheul, ein gellendes, scheussliches Betteln um sein junges Leben — kalt schob das Eismeer sich heran, kalt wie das Herz des bösen Knechts gewesen war. Schon berührte des Bergweibs eisiger Atem seine schweisstriefende Stirne, ihr heiseres Gekrächze drang in sein Ohr — schon war das Vieh auf den äussersten Rand der Alp hinausgedrückt — schon stürzte Haupt um Haupt brüllend hinunter in den Talschlund –, und endlich war Balz allein noch übrig. Mühselig klebte er an einem Felsvorsprung, auf dem sein Fuss kaum zu haften vermochte. So marktet der Mensch, wenn er scheiden und vor den ewigen Richter treten soll, mit dem Tod um die letzten Sekunden.
Jetzt hielt die Drude still, und alles ward still um die beiden Wesen in der schauerlichen Öde. Dann spannte aus den weiten wolkigen Gewändern ein langer Arm sich aus, scharfe Krallen packten den winselnden Küher am Kittel, weit hinaus über den Rand dehnte sich der Arm mit der Riesenfaust und dem zappelnden Opfer, lange schlenkerte das Weib ihn hin und her, ehe es ihn hinunterstürzen liess in den finstern Rachen des Tobels.
Zuweilen nun, wenn der Mai gekommen ist mit seinem Grün und seinen Blüten, wenn die Lauenen donnern, die Giessbäche rauschen und die Sennen zu Berg fahren wollen, so hören sie von der erstarrten Alp her ein jämmerliches Geschrei. Dann drängen sie das Vieh in die sichern Ställe zurück und sagen kopfschüttelnd: «Das ist der Auen-Balz! Der verkündet Schnee! Lasst uns noch warten!»
So erzählt das Volk, dessen Gemüt es liebt, Lehren der Weisheit in das Gewand der Sage zu kleiden.
Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch