Seit altem war es Brauch und ist es bis zum heutigen Tag geblieben, dass urnerische Knechte auf den glarnerischen Alpen als Sennen dienten und sich nützlich machten. So einer war der Stalden-Karli von Silenen, der diente auf einer Alp im Hinterland und machte seine Sache schlecht und recht. Wie er eines Abends am Tisch sitzt und den Fenz löffelt, so kommt einer durch die Türe herein und gibt ihm einen Zettel und geht wieder. Auf dem Zettel aber hatte seine Frau geschrieben, in der letzten Nacht hätte ein Schelm den Chriesibaum im Höschteli rübis und stübis geleert, und es sei kein einziges Chrieseli mehr dran. Und den Tolder (Haupttrieb, Krone) hätte der Schelm auch noch abgezwickt. Ob er nicht ein Mittel dagegen wüsste? Andernmorgens läuft der Karli in heller Wut ins Tal und zu einem der mehr kann als andere Leute (ich denk, es wird der Doktor Thuet gewesen sein!), und fragt ihn, ob er einen Spruch oder sonst etwas Kräftiges gegen den Schelm wisse. Am liebsten würd er ihm den Hals umdrehen.
Der Doktor sagte kein Wort über den Reden des Knechts; dann schloss er sich in der Nebenstube ein, und es nützte dem Karli nichts, dass er durchs Schlüsselloch ergattern wollte, was er nicht sollte, denn es war verstopft.
Nach der Zeit trat der Doktor mit einem Glas klaren Wassers wieder in die Stube, sagte kein Wort, sah den Knecht an und ging hinaus. Der Karli dachte, dass ein Glas Wein ihm lieber wäre, aber in den Glarner Herrenhäusern werde das wohl so der Brauch sein. Er liess das Glas stehen und wartete eine Viertelstunde, eine halbe und eine ganze Stunde, und weil es ihm alsgemach zu langweilig wurde, beschaute er sich die Porträter an den Wänden, die Blumenvasen und die Maienstöcke und zuletzt auch das Glas Wasser.
Was erblickte er auf dem Wasser? Akkurat wie in einem lautern Spiegel? Seinen Chriesbaum, so wie er seit des Grossvaters Zeiten im Höschetli gestanden war, und zuoberst im Tolder sass einer, den er kannte. Dann war das Bild verschwunden. Der Karli aber legte einen Gulden auf den Tisch und machte sich davon.
Im Herbst aber, wie er wieder nach Silenen kam, so geht er in des Nachbars Stube, wünscht höflich die Zeit und setzt sich auf das Ruhebett.
Was er wolle, fragt der andere.
Ob er kein Bauchweh habe, sagt der Karli.
Wüsst nicht von was, sagt der andere.
Von meinen gestohlenen Chriesi, sagt der Karli.
Wie der Nachbar aber einen roten Kopf bekommt, und anfängt zu lamentieren, da nimmt der Karl ihn vor den Richter und gewinnt den Prozess. Der Tolder aber ist nicht mehr nachgewachsen.
Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch