Das Venediger Männlein

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

In alten Zeiten kamen oft wunderliche, dunkelhaarige Leute aus dem Welschland auf die Schweizeralpen gestiegen. Sie suchten im Gefelse und in den Wildbächen nach Gold. Man nannte sie nur die Venediger. Auch sah man sie nicht ungern, denn sie waren manierlich und machten den Älplern manche Kurzweil, indem sie von fremden Ländern und ihrer Stadt am Meere erzählten. Nur das dünkte die Hirten merkwürdig, dass diese Venediger die Tasche, die sie umgehängt hatten, immer voll Goldsand heimtragen konnten, während sie selber trotz allem Suchen kein Körnchen und kein Stäubchen Gold fanden. Doch wussten sie wohl, dass die Venediger mehr konnten als Roggenbrot essen.

Ein solcher Venediger, ein unscheinbares Männlein, kam nun schier jeden Sommer nach Glarus, dem heutigen ansehnlichen Städtchen, das so wohlgeborgen unter dem dräuenden Glärnisch liegt. Von dort stieg er dann, sobald die Sennen mit ihren Kuhherden aufgefahren waren, auf die Hochalpen, wo er mit den Sennen einträchtiglich die Milch auslöffelte und Käse und Ziger ass und auch bei ihnen auf dem Wildheulager schlief. Während aber die Sennen das Vieh besorgten und Käse und Butter bereiteten, stieg das Venediger Männlein in den Felsen umher und kroch durch die Bäche und las Steine zusammen, die besonders schön glitzerten. Waren nun die sieben Säcke voll, so machte sich der Venediger mit einem Male davon, man wusste nicht recht wie. Aber wenn man ihn noch weit fort glaubte, erschien er schon wieder auf der Alp und begann von neuem, Steine in seine sieben Säcke zu sammeln.

Die Hirten sahen das sonderbare Treiben des Männleins giltmirgleich an. Eines Tages jedoch stach sie der Schalk. Sie nahmen dem Venediger Männlein heimlich einen seiner sieben Säcke weg und verbargen ihn, wie sie meinten, so, dass er in aller Ewigkeit unauffindbar war. Wie nun aber das Männlein gegen Abend von seiner Goldsucherei zur Hütte zurückkehrte, fuhr es die vor der Sennhütte gemütlich im Gras herumhockenden und liegenden Älpler an: «Ich hab’s wohl gemerkt, ihr habt mir einen Sack samt den Steinen versteckt. Wollt ihr ihn wohl holen, oder soll ich ihn holen?» Die Hirten lachten und sagten: «Hol ihn nur selber!» Da lief das Männlein zu ihrer Verwunderung einen gar gächen Absturz hinauf und ganz genau an die Stelle, an der die übermütigen Älpler den Sack verborgen hatten. Zornig brachte es ihn samt den klappernden Steinen wieder in die Hütte zurück.

Als auf der Alp der Graswuchs kürzer und die Schatten der Berge länger wurden, und schon hie und da ein raues Schneelüftchen um die obersten Gräte pfiff, verabschiedete sich das Männlein wieder, wie alljährlich. Doch sprach es diesmal freundlich zu den Hirten: «Ich gehe jetzt wieder nach Venedig. Wenn mich einmal einer von euch dort besucht, so schenke ich ihm einen Sack voll lauter lötiges Silber.»

Kaum war das Männlein von der Alp weg, vergassen die Hirten seine freundliche Einladung. Nur einer, der arm war und im Tale nur ein kleines Gütchen hatte, das, von der Alp aus gesehen, ausschaute wie ein Nastuch, behielt des Venedigers Worte sorglich im Gedächtnis. Einen Sack voll Silber hätte er bei seinem kränklichen Weib und seinen vielen Kindern gut anzuwenden gewusst.

Wie nun die Sennen von den Hochalpen zu Tal gefahren waren und die Lärchen und Ahorne überall rot und gelb standen, machte sich der arme Hirte eines Tages still fort, zog über den stiebenden Steg in der Schöllenen und über den Gotthard, bis er endlich nach langem Marsche ans Meer kam, aus dem er eine Stadt mit vielen Türmen auftauchen sah. Das war aber die Meerstadt Venedig, von der ihm das Venediger Männlein so vieles erzählt hatte.

Als er aber in der grossen Stadt ankam, die nur wenige Strassen hatte, weil sie mitten im Meer auf ein paar Sandinseln gebaut war, wurde ihm doch recht übel zumute, denn er wusste ja weder das Haus noch die Gasse, wo das Venediger Männlein wohnte, ja er kannte nicht einmal seinen Namen. Trübselig und bedrückt ging er durch eine enge Gasse und dachte schon ans Heimgehen, da klopfte ihm jemand auf die Achsel, und wie er sich umdrehte, reichte ihm ein kleiner vornehmer Herr die Hand und hiess ihn freundlich willkommen. Sogleich fragte er auch, wie es denn in Glarus stehe, und wie es den Sennen und den Hirten gehe, wobei er manchen Älpler mit Namen nannte.

Jetzt machte aber der arme Hirte Augen, als er in dem feingekleideten kleinen Herrn das unscheinbare Venediger Männlein erkannte, das mit ihm und seinen Talgenossen den Sommer auf der Alp zu verleben pflegte. Doch wurde er voll Freude, als ihn der kleine Herr gar freundlich einlud, mit ihm nach Hause zu kommen und darin Quartier zu nehmen. Er staunte über das schöne Haus, in das ihn der Venediger führte, denn es war von lauter Marmelstein und die Wände also glänzend, dass man sich hätte davor rasieren können. Und vor den Fenstern lag eine dunkle Wasserstrasse, und darüber schwangen sich weisse Tauben. Jetzt hatte es der arme Hirte gut, denn es wurde ihm alles aufgetischt, was ihn gut dünkte, und ein Wein, der so dick und rot war wie Blut, und der ihn zu einer heillosen Kraft brachte.

Aber es dauerte nicht lange, so wollte dem armen Glarner Hirten das Wohlleben nicht mehr recht behagen, obwohl er den ganzen Tag in einem seidenweichen Bette hätte verschlafen können. Seine Gedanken waren immer nur bei Frau und Kindern.

Eines Tages sass er vor des Venedigers schönem Marmelsteinhaus, schaute trübselig drein und dachte an die ferne Heimat. Da trat der Venediger aus dem Haus, und als er ihn so niedergeschlagen und gar Tränen in seinen Augen sah, sagte er freundlich zu ihm: «Mir scheint, du langweilst dich hier in Venedig. Oder hast du etwa gar Heimweh?» – «So ist’s», antwortete der Hirte, «das Heimweh plagt mich, ich weiss mir nicht zu helfen.»

Der Venediger lächelte, führte ihn ins Haus und in ein Gemach, in das er vorher noch nie gekommen war. An der Wand aber hing ein prächtiger Spiegel. «Da schau nun», redete der Venediger, «wie’s jetzt im Dorfe Glarus steht!»

Und o Wunder! da sah der Glarner Hirte Glarus so deutlich vor sich, als ob das Dorf gleich hinter der Wand stünde. Ausserhalb desselben aber erblickte er sein Heimwesen und sein Häuschen. Sein Weib sass gerade vor dem niedern Tätschhäuschen und wusch ihr Kind, und die Augen standen ihr voll Tränen, weil sie ihres fernen Mannes gedachte.

Da sagte der Venediger zu ihm: «So geh jetzt nur wieder heim! Zehrung gebe ich dir in Gold oder Silber. Willst du lieber Gold, so gebe ich dir’s selber. Wenn du aber Silber willst, so kannst du’s in meiner Schatzkammer holen.» Darauf sagte der Glarner Hirte: «Ich will nur einen Sack voll Silber, wie Ihr’s zu Glarus auf der Alp versprochen habt.» Und so ging er dann mit Erlaubnis des Venedigers in dessen Schatzkammer und füllte einen Sack mit Silber.

Wie nun der Hirte aus dem Marmelsteinhaus ging und Abschied nahm, sagte der kleine Venediger noch zu ihm: «Gib ja recht acht auf deinen Sack, dass er dir auf der Reise nicht wegkommt. Und wenn du in einem Wirtshaus übernachtest, so nimm ihn mit dir ins Bett und leg ihn unter den Kopf.» Der Hirte bedankte sich nochmals für alles, was ihm Gutes getan worden war, machte sich aus der Meerstadt davon und wanderte immerzu, immer höher und höher, seiner Heimat zu.

Als er einen ganzen Tag gelaufen war, musste er in einem welschen Dörflein übernachten. Da war ihm schwer, denn er war noch unendlich weit von der Heimat entfernt, und der Sack mit Silber drückte ihn schwer. Doch suchte er eine Herberge auf, ging zu Bett und legte den Silbersack unter den Kopf.

Wie machte er aber Augen, als er am Morgen zu Glarus im eignen Laubsack erwachte und in der Stube die Schwarzwalduhr ticken und vor dem Hause die Ziegen meckern horte. Er meinte zuerst, er habe am Ende alles nur geträumt und sei gar nie in Venedig gewesen. Doch da merkte er etwas Hartes unter dem Kopf, und da fand er den Sack gehäuft voll Silber. Wie eilten seine Frau und seine Kinder herbei und durchs Ofenloch hinauf, als sie den Vater in der Schlafkammer jauchzen hörten! Und wie freute sich die arme Frau des seltenen Kopfkissens in ihres Mannes Laubbett, das einen so silbernen Klang gab, wenn man daran klopfte! Der arme Hirte ward dann ein reicher Mann. Seine Urenkel leben heute noch in Ehren und Ansehen in Glarus. Man heisst sie nur die Venedigerleute.

 

Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch

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