Man sagt sonst immer, dass vier Augen mehr sähen als zwei. Vor vielen Jahren aber war’s einmal umgekehrt. Da kam ein Fremder auf die Alp Obersee und wollte in der Hütte nächtigen. Der Bauer und seine Frau arbeiteten noch an den Blanken drüben im Heu. Geduldig setzte sich der Fremde aufs Bänklein und wartete, dieweil er den beiden zuschaute. Im gleichen Takt rechten sie nebeneinander an der steilen Halde, der Mann voraus, die Frau in derselben Mahde hintendrein. «Du liebe Zeit», dachte der Fremde, «wer wollte auch zum Heuen ein solches Gewand anziehen!» Die Bäuerin trug nämlich ein langes, weisses Lilachen, das aussah wie ein Totenhemd.
Als die beiden fertig waren, schulterte der Bauer den Rechen und wandte sich der Hütte zu. Die Frau aber war mit einem Male verschwunden, als hätte sie der Wind davongetragen. Den Fremden dünkte dies sonderbar. Er tat aber nicht dergleichen, sondern war froh, dass ihn der Bauer nicht weg wies. Am Morgen aber, als sie miteinander bei Milch und Ziger sassen, fing er sachte an: «Es ist doch für einen einsamen Bergbauern nichts Schöneres, als wenn ihm sein Weib bei der Arbeit behilflich sein kann, oder nicht?» - «Ja, schön wär’s», entgegnete der andere wehmütig, «aber meines liegt schon lange unter dem Boden.» Da erzählte ihm der Fremde, was er gestern gewahrt. Ob denn das nicht seine Frau gewesen sei? Der Bauer wusste aber von nichts und konnte es auch nicht begreifen. Da merkte der andere, dass etwas Besonderes an der Sache war, aber erst im Dorfe unten vernahm er, dass er den Geist der Oberseebäuerin gesehen hatte.
Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch